Das Atelierhaus Sciaredo

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«Dieses Haus, das ich zusammen mit Luigi gebaut habe, ist wie ein Kleid, das mir passt. Haus und Land gehen ohne Zaun direkt in die Landschaft über.» 1932

Zur Architektur der Casa Sciaredo

Die Casa Sciaredo wird 1932 von Georgette Tentori-Klein entworfen und zusammen mit Ehemann Luigi Tentori gebaut, in Barbengo, dem Dorfkern und dem elterlichen Palazzo Triulzi vorgelagert, einsam abgeschieden auf einem Hügel.

Erstes Wohnhaus der Moderne im Tessin, fügt es sich künstlerisch und formal in die mitteleuropäische Entwicklung der 1920er Jahre, die sich unter dem Begriff Neue Sachlichkeit und Neues Bauen entwickelt hat.

Die nicht als Architektin ausgebildete Georgette Tentori-Klein könnte sich auf die im Tessin niedergelassene Bewegung um den Monte Verità oberhalb Ascona bezogen haben; diese stilistisch vom Modernismus geprägten Bauten basieren auf konstruktiven und räumlichen Prinzipien zwischen innen und aussen, wie wir sie auch in der Casa Sciaredo vorfinden. Ein Bezug zum Werk von von Le Corbusier, dessen Werk Georgette Klein studierte, ist bekannt: Elemente wie der „toit-jardin“, das grossformatige Fenster, die Einfachheit der Konstruktion, der Materialien und der Volumen fliessen in den Entwurf ein. Ein weiterer Einfluss dürfte auch von ihren Schulfreunden herrühren, den Architekten Hans Ninck und Hermann Siegrist aus Winterthur, sowie ganz allgemein die Entwicklung des Neuen Bauens in der deutschen Schweiz.

Die Bedeutung des Hauses in Bezug zur Moderne liegt in der typologischen Anpassung an die individuellen Bedürfnisse der Erbauerin und auf der konstruktiven Ausführung, eher denn in einer formalen Referenz zu ähnlichen Bauten der Zeit. Dabei steht die Suche nach einer neuen Lebensart im Vordergrund: eine Beziehung zur Natur, eine vegetarische Ernährung, die Wahrnehmung des Körpers im Licht und in der Natur, und die Tätigkeiten Bildhauerei, Musizieren, Schreiben und Puppenspiel: die Einheit aller künstlerischen Ausdrucksformen, verstanden als Gesamtkunstwerk.

Als Kind der Zeit, ein Autorenwerk, ist die Casa Sciaredo typologisch nach Mass auf die Lebensart und Aktivitäten von Georgette Tentori-Klein zugeschnitten, die sich in die Natur zurückzuziehen will, um sich der Arbeit widmen zu können. In dieser zum Essenziellen hin gewendeten Lebenseinstellung ist das Haus nur in Zusammenhang mit dem Aussenraum zu verstehen. Der Garten, ein „hortus non – conclusus“, willentlich nicht umzäunt, nimmt verschiedene Bedeutungen ein: er ist Park, Landschaft und gleichzeitig auch Feld, welches das Notwendige für ein autonomes und fast autarkes Leben hergibt, extreme Konsequenz der Wahl einer Individualistin.

Das Haus entwickelt sich vertikal, über drei Geschosse, der Bedeutung nach von oben nach unten: zuoberst die bewohnbare Dachterrasse, vom Boden abgehoben, eine Projektion in die Landschaft, eine Plattform inmitten des Raumes, losgelöst, sogar vom eigenen Baukörper, unsichtbar unter den Füssen. Ort des Absoluten, des Geistes im Zentrum der Welt ist sie der Kontemplation, Musik und Ruhe gewidmet.

Im darunter liegenden 1° Obergeschoss befindet sich der Schlafbereich mit 3 Zimmern und dem Bad, hierarchisch und symmetrisch angeordnet. Die beiden kleinen, seitlichen Terrassen ergeben mit dem zentralen Hauptzimmer mit Fenstern nach Süden, Osten und Westen eine Öffnung von 180°, in die drei Himmelsrichtungen der Sonne. Die an die Ecken der Nordfassade zurückversetzten winzigen, seitlichen Gästezimmer öffnen sich nach Süden, zu den seitlichen Terrassen, mit Bezug zur Landschaft. Wenn auch winzig, ergeben die beiden Zimmer, wohl proportioniert mit je integriertem Doppel-Schrank, mönchartige Räume, mit offenem Charakter unter räumlichem Einbezug der Terrassen.

Das Erdgeschoss, an die Erde gebunden, ist dem Praktischen, Nützlichen und der Arbeit gewidmet. Räumlich unregelmässig gestaltet, ist es die Summe der Nutzräume Atelier, Wohnzimmer und Küche. Die Treppe fügt sich elegant in das Wohnzimmer ein und wird zum Schrank mit eingebauter Durchreiche, entsprechend der Logik des haushälterischen Umganges mit dem Raum.

Die Komposition des kleinen Volumens basiert auf einem Grundriss von 8 x 10 Metern und beruht auf dem deduktiven Prinzip der beiden seitlichen Volumen im 1° Geschoss, woraus, zusammen mit der Dachterrasse, eine formal eigenständige und charakteristische Form entsteht. Der starke und bildhauerische Ausdruck des Gebäudes ergibt sich schliesslich aus der klassisch symmetrischen Anordnung und aus einer Hierarchie der Funktionen, ohne dass die Funktion der Form untergeordnet würde.

Konstruktiv ist die Casa Sciaredo eine verputzte Mauerkonstruktion, rational aus den Materialien der aufkommenden Industrialisierung gebaut und zu dieser Zeit vorwiegend in industriellen Strukturen verwendet. Die Decken sind als Hourdiskonstruktion ausgeführt: Stahlträger, Füllelemente aus Backstein, mit Zement verbunden. Die Terrassen wurden ursprünglich mit Gussasphalt als Abdichtung eingedeckt, mit seitlichen Wasserrinnen, ebenfalls aus Asphalt. Der monolithische Aufbau führte zu Schäden und erforderte eine getrennte Isolationsschicht mit einer Abdichtung und Blechanschlüssen an die aufführenden Mauerteile, um den Wasserhaushalt zu gewährleisten.

Die Zentralheizung mit Ölbrenner und Heizradiatoren, die Sanitär- und die Elektroinstallation waren avantgardistisch und zur Entstehungszeit vor allem im touristisch ausgerichteten Hotelbau vorzufinden, noch nicht im privaten Bereich.

Das Haus wurde 1932 zwischen Juli und Oktober gebaut. Im Jahr 1999 wurde es durch Lukas Meyer und Ira Piattini renoviert, im Jahr 2016 durch Jachen Könz, in enger Zusammenarbeit mit der kantonalen Denkmalpflege, wobei man sich bemühte, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, auch betreffend der Farben.

Jachen Könz, Architekt BSA, Lugano, 22. Mai 2017