Georgette Tentori-Klein – die Vielseitige

Georgette Tentori-Klein – Doktor der Germanistik, Violinistin, Tagebuchautorin, Textilschaffende, Puppenspielerin, Bildhauerin, Schriftstellerin, Zeichnerin, Architektin, Philosophin …

Vielleicht ist es richtig, den so wunderbar im Licht stehenden Kubus auf dem kleinen Hügel nahe der Kirche von Barbengo als «Opus Magnum» der Winterthurer und Tessiner Künstlerin Georgette Tentori-Klein(1893–1963) zu bezeichnen. Doch ein detaillierter Blick auf ihr Leben und ihr Schaffen bringt unendlich viel mehr ans Tageslicht – lässt das Bild einer unermüdlich arbeitenden, täglich nach Erkenntnis strebenden, sowohl ihr äusseres Werk wie ihre inneren Entwicklung ohne Unterlass vorantreibende Persönlichkeit erkennen.

Zuallererst gilt es zu bedenken, dass Georgette Klein – ab 1931/32 Georgette Tentori-Klein – bereits 38/39 Jahre alt war, als sie die Pläne für das «Bau-Haus» für sich und Luigi entwarf. Die Tessiner Zeit betrifft die zweite Hälfte ihres Lebens. Wenig Aufmerksamkeit wurde bisher der ersten Lebenshälfte geschenkt. Die ist indes reich und birgt ebenfalls Highlights, wie die wunderbare Tischdecke für das Kunstmuseum Winterthur oder die Leitung der Abteilung Figurentheater an der Saffa in Bern 1928. Doch der Reihe nach.

Georgette Klein - die Familie im Engadin

Die Familie Klein auf dem Morteratschgletscher im Juli 1911 (v.l.n.r. Marcelle Klein, Louise Klein-Châtelain, Rodolfo Klein, Georgette Klein)

Wie bekannt, wächst Georgette Klein (geb. 26. Juli 1893) zusammen mit ihrer um vier Jahre jüngeren Schwester Marcelle in wohlhabenden Verhältnissen Winterthurer Unternehmertums auf. Die Eltern lassen ihren Mädchen eine ausserordentlich gute Ausbildung zukommen: Georgette studiert Germanistik und Romanistik, Marcelle Geschichte. Daneben wird gestickt und musiziert, wie das den damaligen Gepflogenheiten einer gutbürgerlichen Erziehung entspricht. Georgette spielt Geige (wie ihre Mutter) und Marcelle Klavier. Hausmusik gehörte zweifellos zum Alltag.

Doch der Schein trügt. Die Idylle ist eng, das Selbstwertgefühl der Töchter klein und eine aktive Zukunft für sie nicht fassbar. Eine typische Situation für junge intelligente Frauen dieser Generation. 1916 – Georgette ist 23 Jahre alt – beginnt die an der Universität Zürich Studierende ihre Befindlichkeit in Hefte zu schreiben. Am Ende ihres Lebens werden es über 100 sein. Tagebücher im engeren Sinn sind es nicht, wir erfahren nicht  (oder nur vereinzelt) vom Lauf der Tage, und doch sind es dahingehend Journale als die Schreiberin darin ihren Empfindungen freien Lauf lässt, vor allem auch Befindlichkeiten, die sie im Alltag nicht zeigen darf, sprachlich zu bewältigen sucht.

Wie es zu einem jungen Menschen gehört, steht von Anfang die Liebe im Zentrum:

Ich möchte wie Ton und Farbe in dein Leben gehören.

Ich will farbige Kleider tragen.

Rosen zieh ich für dich in meinen Gärten.

Ich bin der Teppich in deinem Hause.

Ich bin die Verzierung  an den Wänden deines Lebens.

Ich bin der Vogel, der durch deine Träume geht.

1915 hatte Georgette Klein  «F» (den späteren Sprachwissenschafter Frederik Bodmer) kennengelernt. Eine Beziehung, die von viel Leid und Kummer und Sehnsucht geprägt ist, nie zu eigentlicher Verbindung gelangt und doch bis 1958, d.h. bis kurz vor «F»s Tod1 in Rom dauert.2

Im selben ersten Heft schreibt sie:

Ich liebe einen müden Menschen.

Wir alle sind müd.

Draussen ist Krieg.

«Wenn 2 von uns zusammenkommen, gibt  es keine Synthese. Es gibt ein Zusammenleben wegen des Leids in uns.»

«Frauen haben im Grund zu den Dingen kein Verhältnis, sehen sie nur in bezug auf jemanden, den sie lieben, nur durch einen Mann hindurch.»

Erst später wird sie erkennen: «Viel unverbrauchte Kraft liegt in den Frauen.»

Vorerst fürchtet sie sich vor Unfruchtbarkeit – wohl weniger im körperlichen – sie sagt im «animalischen» –  Sinn als vielmehr in bezug auf eine mögliche Produktivität. Dies mag ein wesentlicher Grund sein, dass sie nur wenig später Gegensteuer zu geben versucht.

Bis 1919 steht das Studium und danach das Verfassen der  Dissertation zu Leben und Werk des politisch engagierten deutschen Lyrikers Ferdinand Freiligrath (1810–1876) im Zentrum ihrer Tätigkeit. Freiligrath war eine Art Rousseau Deutschlands im 19. Jh. Er schrieb und lehrte da und dort, beschwor die Notwendigkeit einer Revolution, wurde deswegen mehrfach verfolgt und war schliesslich tief enttäuscht  über den Misserfolg von 1848. Obwohl sich Georgette Klein in ihrer Dissertation fast ausschliesslich auf die Analyse seiner Lyrik konzentriert, muss sie sein kritischer Geist, auch seine Verbindungen zu Marx und Engels, beeindruckt haben. Für sie war ein revolutionärer Aufbruch innerlich nicht möglich in dieser Zeit. Sie «zerfleischt» sich in ihrem Liebeskummer.

Ich gehe heim in Welten.

Nirgends.

Ich werde zerschellen und nicht mehr sein.

Man wird auch keine Kinder kennen von mir.

Ich werde meine Geige stimmen und viel Leid mitnehmen

....

Ich ging durch viele Strassen

Wegen der Erlösung.

Nun sind die Strassen eng geworden.

Mauern rücken aneinander.

.....

Ich bin zerfallen in 1000 Welten.

Wirst Du Dich noch nach solchen Scherben bücken?

 

Doch nur einen Tag später (13.12.1917):

In mir weilt ungestümes Leben,

winselt und wehklagt

und will in 1000 Körper fahren …

Parallel zu ihren literarischen Studien – auch Nietzsche steht in ihrer Bibliothek – widmet sich Georgette Tentori-Klein intensiv der Musik und dem Sticken. Die Kunst erscheint als Begriff sehr früh in ihrem Tagebuch, doch sieht sie diese – noch ganz dem Geist des 19. Jh. verpflichtet – als etwas derart Unerreichbares, dass sie frühestens im Alter dazu fähig sein werde. So sind ihr das Musizieren, das Interpretieren von Klängen und Rhythmen berühmter Komponisten sowie das Kunsthandwerk – als Kunst im Dienst der Dinge – mögliche Ausdrucksformen. Und dies keineswegs erfolglos.

Es ist anzumerken, dass der Bauhaus-Gedanke, der Kunst und Leben vereinen will, nach dem 1. Weltkrieg im Raum Zürich starke Kräfte mobilisiert. So ist zum Beispiel in der von der Künstlervereinigung «Das Neue Leben» im Kunsthaus Zürich (Jan. 1919) veranstalteten Ausstellung das Kunsthandwerk gleichberechtigt neben kubistischen und expressiven Malerei-Tendenzen zu sehen. Entsprechend hoch ist die Zahl der vertretenen Künstlerinnen.

Das trägt sicher dazu bei, dass Georgette Klein 1919  im Rahmen der Dezember-Ausstellung der  Künstlergruppe Winterthur im «Graphischen Kabinett» in einer Vitrine nicht weniger als 17 «kunstgewerbliche Arbeiten» ausstellen: «Teppich auf schwarzem Grund», «Gestickter Stoff für Echarpe oder Tunique», «Kissen», «Stirnband», «Halsschmuck», «Gürtel» und mehr. Was man sich in etwa darunter vorzustellen hat, mag eine Fotografie illustrieren, die 1921 entstand, als Georgette Klein bei sich zuhause an der Neuwiesenstrasse in Winterthur eine kleine Ausstellung veranstaltete.

Georgette Klein frühe Textilien

Atelierausstellung mit Textilarbeiten, 1921

Erstaunt stellt man fest, dass sie in diesen Arbeiten ungegenständlich arbeitet, ohne dabei Ornamente zu gestalten. Bildbezogen kann man somit von pionierhafter Gestaltung am Puls der Zeit sprechen. Dies umsomehr als die sich bis heute in der Sammlung des Kunstmuseums Winterthur befindende Tischdecke «Tovaglia» im Format von 118 x 120 cm diese Feststellung mehr als nur stützt.

Aufgrund der Präsentation im Kabinett erteilte der Kunstverein Winterthur «Fräulein Dr. Georgette Klein» den Auftrag, eine Decke für den runden Tisch im Anton Graff-Saal zu fertigen.3 Diese Tischdecke ist ein Meisterwerk. Ein genaueres Hinsehen zeigt nicht nur, wie malerisch sie gestickt hat, wie sie mit den Richtungen der Schlingen in den Flächen quasi einen Pinselduktus simulierte, sondern auch die spannende Balance zwischen dynamischem Gestalten und ornamentaler Anordnung der Elemente um das (unbestickte) Zentrum.

Wie Georgette Klein, die doch ein Jahr zuvor die Doktorwürde in Germanistik erhielt, zu einer gestalterisch so reichen, ausgewogenen und ungegenständlichen Bildkomposition gelangte, ist von keinerlei Ausbildung oder ähnlich unterlegt. Sticken konnten alle Frauen ihrer Generation; das gehörte zur Erziehung. Doch das Gestalten? – Der Gesamteindruck hat etwas Barockes, doch klingen gleichzeitig auch Jugendstileinflüsse an. Inhaltlich könnte man das «Bild» als Darstellung der Kräfte der vier Elemente interpretieren, als Wellen aussendende Aura, als magnetisches Feld, als Lichtphänomen und mehr. Es gibt indes keine bekannten Hinweise, dass Georgette Klein sich in dieser Zeit mit den damals aktuellen Strömungen rund um die 4. Dimension, um Spiritismus und mehr auseinandergesetzt hätte. Auch Rudolf Steiner oder  C.G. Jung tauchen in ihrem Tagebuch (noch) nicht als Referenzen auf.

Georgette Klein Tischdecke Winterthur 1921

Tischdecke «Tovaglia» für das Kunstmuseum Winterthur, 1921

Wie auch immer: Es ist ganz klar, hätte Georgette Klein dasselbe Bild auf Leinwand gemalt und nicht  mit unendlich viel grösserem Aufwand auf Tuch gestickt – es wäre ein wichtiges Werk der Kunst um 1920. Weil es aber gestickt ist, somit zu den bildnerischen Momenten auch noch materialbezogene und handwerkliche Momente hinzukommen und überdies eine Nutzung möglich ist, blieb die nahezu quadratische Tischdecke nach der kurzzeitigen Aufwertung des Kunsthandwerklichen als Teil  der Einheit von «Kunst und Leben» wieder in die Zweitrangigkeit des «Kunsthandwerks» zurückgestuft und bis heute nicht ihrem bildnerischen Wert entsprechend gewürdigt.

In derselben Zeit  studiert Georgette Klein am Konservatorium in Zürich Violine (bei Willem de Boer) und wird als Violinistin ins traditionsreiche Collegium Musicum der Stadt Winterthur aufgenommen. Sie tritt mit dem Sinfonieorchester mehrfach öffentlich auf. Ebenso publiziert sie gelegentlich Betrachtungen zu Kunst und Stilgeschichte im Winterthurer Tagblatt.

Ein klein wenig spiegeln sich die neuen, nach aussen gerichteten Aktivitäten im Tagebuch. «Kunstgewerbe, um Zeit zu gewinnen für andere Aufgaben», steht da etwa 1920. «Sich so rüsten auf Wanderschaft und Alleinsein». Oder auch: «Wandern macht mutig.» Fotografien aus den 1920ern zeigen Georgette Klein – häufig zusammen mit ihrer Schwester oder Freundinnen – in Gebirgslandschaften im Tessin, ihrer späteren Heimat. Die Berge sind ihr Mass, Ort der Sehnsucht auch.

Hörst Du das Jauchzen der Weberin hinter den Bergen?

In bin ein Rhythmus von breiten Schlitten

Durch lange goldbraune Tage.

Die Erde ist blau vom Widerschein –

Bäume bestreichen den Himmel grün.

Ich gehe steinsteile Wege,

Wind hinter mir verweht die Spur meiner Schritte,

löscht die Grenzen meiner Zeit. (März 1923)  

Noch ist sie nicht so weit. Georgette Klein erkennt, dass sie sich vom Elternhaus trennen sollte, was die Mutter aber offenbar blockiert. «Die Eltern schützen uns so, dass wir unsere Waffen nicht kennen und handhaben lernen.»

Die finanzielle Situation lässt einen Bruch mit dem Elternhaus nicht zu. Doch: sie hat jetzt ein Atelier in der Stadt und arbeitet viel. Auch reist sie im April 1921 erstmals nach Paris. Reisen führen sie in den 1920er-Jahren in viele westeuropäische Städte. Hunderte von Notizzetteln zu Kunst und Künstlern, Berge von Postkarten mit berühmten Gemälden, Kirchen und Kathedralen, aber auch anderen Gebäuden bleiben ein Leben lang in ihrem – nota bene wohl geordneten – Fundus  zu verschiedensten Wissensgebieten.  

Georgette Klein Skulptur früh

Frühes Holzrelief, undatiert

Ab 1921 belegt Georgette Klein Kurse in Holz schnitzen bei Carl Fischer an der Kunstgewerbeschule Zürich. Die Ausbildung des Handwerklichen biete ihr die Möglichkeit das Literarische zu überwinden, schreibt sie im Tagebuch. «Endlich einmal spielen lernen.» Carl Fischer (1888–1987) war ein der Tradition des frühen 20. Jh. verpflichteter, figürlich arbeitender  Zürcher Bildhauer. Sein Einfluss  ist in GEOs Werk deutlich sichtbar. Sowohl was die Formensprache ihrer frühen Köpfe und Reliefs betrifft, wie auch – ganz anders – mit dem, was er als Mitbegründer des Schweizer Marionettentheaters (1918–1935) in ihr auslöst.4 Schon 1921 schafft  Georgette Klein die ersten Marionetten. Sie bleiben – sich später in Handpuppen und auch in Figuren an sich wandelnd – bis in die späten 1950er-Jahre von grosser Bedeutung für Georgette Klein.

Ja, man kann sogar sagen, dass hier in dieser Zeit der Anfang des «roten Fadens» geknüpft wird. Er folgt, im weitesten Sinn, dem Versuch, das Wesen des Menschen mit seinen so verschiedensten Charakterzügen zu ergründen. Das Puppenspiel bietet Georgette Klein  im wahrsten Sinne des Wortes eine Bühne dafür. Eine Bühne, auf der sie all ihre Talente bündeln kann: Ihre Interessen für Form, Bewegung, Sprache (Literatur, Weltgeschichte), Architektur, Ernst und Komik, Kleidung (Textiles) und überdies ihr Wunsch, das Eigene auch weiterzugeben. Wobei sie zum Teil selbst (und im Verbund mit anderen) als Puppenspielerin in Erscheinung trat wie auch Figuren schuf und Stücke schrieb, auf dass Puppentheater-Truppen sie aufführten.

Georgette Klein frühe Marionetten

frühe Marionetten

Der Auftrieb, den ihr die verstärkte Integration in die Kulturszene bringt («ich trage immer hellere Kleider»), wird auch in dem sich parallel fortschreibenden Tagebuch manifest. Die schwere Depression der Zeit um 1919 scheint überwunden, macht sogar verhaltener Freude Platz.

Mein Leid

           das liegt gefangen in glänzenden Kugeln von Glas.

Ich stehe steil auf hohem Seil,

            ich bin Jongleur und Akrobat.

Ich werfe lauter Brücken von Glas

            Zwischen Himmel und Wolken und Stern und mir.

Ich schrecke die Nacht mit Feuerwerk –

            Raketen rieseln wie Tränen zurück.

Die Menge gafft und ich ertanze

            Mit Kugeln von Glas mein Gleichgewicht. (6.2.1921)

Für Georgette Klein bedeutet die Konzentration auf das Kunsthandwerk eine Hinwendung zu den Dingen. Zur Literatur sagt sie: «Wir sind so von ihr verseucht, dass wir keinen Augenblick davor sicher sind, in sie zu fallen.» Noch ist indes unklar, in welche Richtung sie gehen wird. «Im Holz erlebe ich die Grenzen und den Widerstand. Beim Sticken kann man beliebig viel hinzufügen und wird masslos.» Dieser letzte Satz mag erklären, warum sie 1922 beschliesst, weben zu lernen. Hiezu weilt sie im Juni/Juli in Weybridge im Südosten Englands. Das Weben dient fortan für  Banden, Wandteppiche und auch Stoffe für Kleider und mehr. Nur weniges ist erhalten, zum einen, weil sie für den Verkauf arbeitete, zum anderen weil Sciaredo nach ihrem Tod 1963 mehr oder weniger in einen 30jährigen Dornröschenschlaf fiel und Insekten die im Haus verbliebenen Textilien befielen und zerstörten.

Georgette Klein Wandteppich Georgette Klein Tischlampe

Wandteppich gewoben; Tischlampe (beide 1920er-Jahre)

Ein Glücksfall war 2012, dass im Sammlungsfundus des Museums Bellerive in Zürich zwei erstklassig erhaltene Aufleger auftauchten. Das Museum hatte sie 1922 und 1927 im Rahmen von Jahresausstellungen in Zürich bzw. Winterthur angekauft. Sie zeigen analog anderer Arbeiten und vor allem auch Fotos  klar auf:  Im Kunsthandwerk orientiert sich Georgette Tentori-Klein sehr viel stärker an modernen Tendenzen als im Bereich der Skulptur. Sie sagt: «Auf die Gesetze des Holzes muss man hören, weil sie  gewachsen sind, mit dem Stoff kann man machen, was man will, denn er ist auch schon gemacht.» Trotzdem gilt die Modernität  auch für die Tischlampen, die sie in dieser Zeit entwirft und deren Sockel sie bei Pfeiffer nach Vorzeichnungen drehen lässt.

Zweifellos liefern ihr die Nähe zur Kunstgewerbeschule Zürich und die Mitgliedschaft im Schweizerischen Werkbund hier wertvolle Anregungen. Auch das erwachende Interesse an Architektur hat seine Wurzeln in Veranstaltungen und Reisen des Werkbundes. Oder noch klarer: Der Weg führt sie vom Kunsthandwerk zur Architektur und von der Literatur zur Skulptur. Erstere verbinden sich im Raum – «ich liebe die Zimmer, in denen noch Raum ist für neue Möbel und die Menschen, die sich die eigene Zukunft noch nicht abgeschnitten haben.»  Letztere finden im Figurentheater zusammen.

In Georgette Kleins Gedichten und Texten taucht immer wieder der «Tanz» auf. Längst nicht immer heiter:

              Wie viele Schmerzen ich getanzt habe,

schau nicht in Abgründe.

              Aus mir brechen alle Kräfte hervor,

mitunter so lächerliche.

              Ich habe mich so um dich gedreht,

vielleicht warst du ein Stern in meinem Leben....

            Nun will lachen und immer tanzen:

ein winziger Punkt im Weltraum.

            Wie viele Schmerzen ich getanzt habe –

schau nicht in die Abgründe. (8.8.1918)

Für Tanzunterricht (was damals durchaus im Trend gelegen hätte) gibt es keine Hinweise. Aber 1924 nimmt sie an einem Kurs zum Thema «Deutsche Tänze» in Campo im Tessin teil – einer Choreografie zu Beethovens berühmter Komposition. Das Erlebnis der Verbindung von Musik und Bewegung war ihr offenbar so wichtig, dass es selbst als Verweis in einer Kurzbiografie von 1928 auftaucht. Die zahlreichen Fotos, die Georgette Klein als junge Frau an der Fasnacht in Winterthur zeigen, weisen in dieselbe Richtung. Das Verkleiden, das Schlüpfen in eine andere Rolle gab ihr Freiheiten, die sie sonst nicht leben konnte. In gewissem Sinn gilt dies auch für das Figurentheater.

Georgette Klein Deutsche Tänze

Georgette Klein faszinierte der Tanz als Ausdruck von Form und Bewegung.

Vieles läuft parallel in diesen 1920er-Jahren – kunsthandwerkliche Arbeiten kann sie ebenso im Gewerbemuseum in Winterthur zeigen wie an der «Exposition des arts appliqués» in Paris. Leider gibt es keine unmittelbaren Zeugnisse davon. Auch die zeitliche Zuordnung der Marionetten ist schwierig.

Aber sie muss sich einen Namen gemacht haben, denn sie zeichnet 1928 für das Figurentheater an der für viele Künstlerinnen in der Schweiz  enorm wichtigen Saffa5 in Bern verantwortlich. Aufgeführt wird «Der betrogene Kadi», eine Kurzoper von Christoph Willibald Gluck (1714–1787). Georgette Klein schafft hiezu die Marionetten. Die Pläne für Arme und Beine, die sie bei Pfeiffer drehen liess, sind erhalten. Die Köpfe schnitzte sie als wären es Porträts. Auch kleidete sie ihre Puppen selbst ein, möglicherweise wob sie sogar die Stoffe dafür. Erfreulicherweise wurden im Frühjahr 2013 aufgrund historischer Aufnahmen zwei dieser Figuren im Marionettenmuseum in Freiburg aufgefunden.5a

Georgette Klein Marionetten Saffa 28

Zwei der Marionetten für die Saffa von 1928 in Bern

Ein entscheidenes Datum findet sich im Tagebuch in einer halben Zeile: 16.X.1927 Hauskauf in Barbengo. Die Familie hatte schon lange eine enge Beziehung zum Tessin und wohl auch schon lange die Absicht, nach der Pensionierung Rodolfo Kleins bei Sulzer in Winterthur dahin zu ziehen. 1930 wird das der Fall sein.

Bereits Ende 1928 entschliesst sich Georgette Klein im Palazzo Triulzi Wohnsitz zu nehmen. Sie etabliert daselbst ihr «Atelier Geo», inszeniert auch Marionettentheater. Der Hintergrund für diesen mutigen Schritt ist wohl einerseits ein romantischer – Distanz zur Stadt,  ein Ort, um sich selbst zu finden, andererseits aber wohl auch ein Versuch, sich von Fritz Bodmer zu lösen, mehr Distanz zu den Eltern zu haben. Dass sie ein Leben lang in Barbengo bleiben, dass die Abgeschiedenheit auch Isolation bedeuten würde, ahnte sie wohl (noch) nicht. Im Vordergrund steht die Suchende, die sich täglich fragte: Wer bin ich, was ist mein Weg, wie kann ich ihn und damit mich selbst finden? Ihr Tagebuch ist Ausdruck davon und «F» spielt darin immer noch eine Rolle:

«Wenn ich an dich denke, ist die Folge immer die, dass ich anfange nach meinen Fehlern und Schwächen zu suchen … Ich bin befangen, weil in dir ein grosses Stück Welt mir entgegentritt. So viele Tote sind in deinem Gehirn und so viele Paläste … Eine Begegnung mit dir ist ein Zwiegespräch mit der Welt … Steht es am Anfang meines Weltgesangs?»

Im Gegensatz zu Marcelle Klein, die als Sekretärin und Französischsprachlehrerin tätig ist, siedelt Georgette Klein also mit den Eltern nach Barbengo um. Auch sie liebt das Tessin, liebt das Wandern, liebt die Natur und vielleicht erhofft sie sich abseits der Kulturszene eine Vertiefung ihres eigenen Seins in der Welt wie wir sie im Tagebuch mitlesen können.  

Du bist gefügt in den Kreis der Wiedergeburten – Die Zeit  ereignet sich an dir – Der Raum schwingt, du schwingst mit.

Die Zeit ist eine elastische Grösse. Anwandlungen, sie zu kneten. Sie wirbelt vor dir hin, macht dich seekrank – oder sie steht dir still und du peitschest sie.

Der Raum ist ohne Grenzen. Trotzdem schneidest du ein Stück nach deiner Grösse zurecht.

Mein Unmut reibt sich rot an der Steilheit der Häuser.

Oder auch:

«La musique n’est pas pour moi un plaisir sensuel, c’est une éducation de l’esprit. La musique est une forme de vie, où le fluide est presque impossible à emprisonner. C’est pour cela aqu’elle m’aide beaucoup à retrouver et reconquérir le fluide vital.»6

An dieser Stelle muss die romantischste Anekdote im Leben von Georgette Klein erwähnt werden: Es heisst, sie sei 1929 eine Treppe hinuntergefallen und ein gewisser Luigi Tentori, Elektriker von Beruf, hätte sie auf seinen Armen zum Arzt getragen. Dabei habe es «gefunkt».

Luigi Tentori Barbengo

Luigi Tentori war Elektriker von Beruf, betreute aber auch die Reben.

Tatsächlich treffen sich die beiden in der Folge und schreiben sich, insbesondere im Sommer/Herbst 1930, als Georgette Klein in Yverdon-les-Bains einen mehrmonatigen Gartenbaukurs besucht, fast täglich. Sie solle ihr Unsicherheit ablegen und das Leben geniessen, rät ihr der wesentlich pragamatischer im Leben verwurzelte, ältere Freund.

In gemeinsamen Stunden (versteckt vor Georgettes Eltern) müssen sie die  Idee ausgeheckt haben, auf dem Hügel nahe der Kirche – es heisst, das Grundstück habe den Tentoris gehört – ein Haus für sie beide zu erbauen. So entstand das Atelierhaus Sciaredo.

Mit einer wohl nicht zuletzt mit einer vom Feuer einer Zukunftsvision getragenen Freiheit zeichnet Georgette Klein das sich an den Visionen des Bauhauses orientierende Gebäude. Auf Reisen mit dem Werkbund und in Kontakt mit Winterthurer Architekten hat sie die moderne Formensprache kennengelernt und war offensichtlich fähig, sie auch im Grossen selbst zu denken und umzusetzen. Tentori ruft seine Handwerkskollegen zusammen, und im Sommer 1932 bauen sie innerhalb von drei Monaten (Juli bis September) das Haus. Gut, musste damals im Tessin nicht für alles eine Bewilligung eingeholt werden … und keine mit heute vergleichbaren Standards eingehalten werden. So konnte in wunderbarer Weise das früheste Tessin realisierte Wohnhaus im Stil des «Bauhauses» entstehen.8

Georgette Klein - Casa Sciaredo

Die Casa Sciaredo 1932 (von der Hinterseite her)

Es ist in früheren Texten oft «gelächelt» worden über die Verbindung der intellektuellen Winterthurer Unternehmerstochter mit dem Tessiner Handwerker Luigi Tentori. Man fragte sich hinter vorgehaltener Hand gar, ob dies möglicherweise eine reine Zweckehe war, die Georgette Klein die Ablösung von den Eltern ermöglichte und ein Territorium zum Bau ihres Traumhauses brachte. Diese einseitige Sicht ist falsch. Ohne sie ganz zu verneinen, bedarf sie der Ergänzung.

Georgette Klein sehnte sich nach ihrem Gegenpol, war im Zwiespalt mit ihrer eigenen Intellektualität und suchte ja bereits seit Jahren im Kunsthandwerk die Alternative zu Theorien ohne Lebenssaft. Sie bewunderte Luigi für diese andere Seite.

«Luigi scheint ganz genau die Grenzen zu kennen, über welcher hinaus die Arbeit keine Freude mehr sein kann, sondern eine Fron wird, nämlich: wenn man sie mit zu viel Ambition unterlegt. Er versteht es, diese Grenze nicht zu überschreiten», schreibt sie in ihr Tagebuch.

Auch die Idee einer platonischen Ehe widerlegen Texte im Tagebuch unzweifelhaft, aber schöner als Worte sind Zeichnungen, für die ihr Tentori posierte.

Georgette Klein - Porträtzeichnung Luigi Tentori Luigi Tentori - Zeichnung von Georgette Klein

Luigi Tentori vom Bleistift von Georgette Klein «eingefangen».

Der Hausbau und die Ehe bedeutet eine Ablösung vom Elternhaus, aber keinen Bruch; es gibt auch aus späterer Zeit Fotos, die Georgette im Kreis ihrer Familie zeigen, allerdings stets ohne Tentori, denn insbesondere ihre Mutter akzeptierte die Verbindung nicht. Ihre Korrespondenzen signiert Georgette nach der Heirat jedoch konsequent mit Georgette Tentori-Klein. Es ist die spätere Rezeption ihres Schaffens und ihrer Person, die das «Tentori» weitgehend weglässt.

Kinder haben die beiden keine – Georgette hätte sich dies zwar gewünscht, doch ist sie 1932 bereits 39 Jahre alt. Die unzähligen Mutter-Kind-Skulpturen, die in den folgenden Jahren entstehen, zeigen die Relevanz des Themas für die Künstlerin.

Das Atelier in der Casa Sciaredo und auch die neue Lebenssituation geben Georgette Tentori-Kleins Produktivität Auftrieb. Es entstehen eine Vielzahl von Marionetten, später Handpuppen9, ebenso Holzskulpturen und wohl auch weiterhin textile Arbeiten. Das Textile hat aber keinen künstlerischen Anspruch mehr, konzentriert sich auf Gebrauchstextilien, wobei  sie im Bereich der Mode – bis in die 1950er-Jahre fertigt sie Kleider für Freunde und Bekannte – ihre konzeptuelle Vision der «Freiheit» im Kleid beibehält. Auch für die Handpuppen schnitzt sie nicht nur die Köpfe, sondern kleidet sie auch ihren Charakteren entsprechend ein. In den Skulpturen stehen Köpfe – zum Teil auch Porträts – im Vordergrund; zuweilen sind sie vollplastisch, zum Teil sind es aber auch Reliefs.  Es sind einzelne Köpfe, aber auch Mutter-Kind-Darstellungen, und es gibt auch «Schwestern».10

Georgette Klein  Georgette Klein «Kopf» undatiert (50er-Jahre)Georgette Klein «Schwestern» undatiert (40er-Jahre)

Georgette Tentori-Klein, «Mutter und Kind», undatiert (nach 1935) | Georgette Tentori-Klein, «Kopf», undatiert (50er-Jahre) | Georgette Tentori-Klein. «Schwestern», undatiert (40er-Jahre)

Wie weit Georgette selbst diese Arbeiten als «Kunst» sah und wie weit als Kunsthandwerk, ist nicht definiert. Tatsache ist indes, dass sie ihre Arbeiten mehrheitlich über kunsthandwerkliche Vertriebskanäle anbietet und auch verkauft. Sie hat Beziehungen zu mehreren Heimatwerk- oder dieser Ausrichtung verwandte Läden, sei es in Morcote, in Lugano, in Ligerz (Atelier Geiger-Woerner), im Gewerbemuseum Winterthur und Zürich. Bereits 1932 mietet sie den Kursaal Lugano, um ihre Werke daselbst in einer Ausstellung anzubieten. Sie wird Mitglied des Lyceum-Clubs Lugano und zeigt ihre Arbeiten auch in diesem Kontext.

Georgette Klein Tonkopf Georgette Klein Tonkopf

Georgette Tentori-Klein, weitere Holzskulpturen

Die Köpfe dokumentieren ihr Interesse am Menschen, am Ausdruck des Gesichts als Sinnbild des Charakters. Immer und immer wieder münden ihre Tagebucheinträge in den Gegensatz von Individuum und Kollektiv. Es gelte, so Georgette Tentori-Klein, vom Eigenen zum Allgemeingültigen vorzudringen, das Persönliche abzustreifen, um das Wesen in einem weitergehenden Sinn zu erfassen.

Es ist klar, dass sich hier ihr persönliches und ihr künstlerisches Streben überlagern. Und es ist auch klar, dass es künstlerische Überlegungen sind. Sie hätte mit ihren Arbeiten ebenso gut den Zugang zu Galerien, zur Kunst suchen können, aber einerseits fühlt sie sich in ihrer Entwicklung noch nicht so weit, andererseits erlaubt ihr der Kunsthandwerkstatus auch ein gewisses repetitives Moment. Speziell die Mutter-Kind-Darstellungen stossen auf Echo (sprich: Verkauf), sodass sie ihre Boutiquen auch entsprechend beliefert. Inwieweit dies Künstler und Künstlerinnen genau so machen, sei hier nur am Rande gefragt. Eindeutiger wird die Position da, wo Tentori-Klein auf Wunsch ihrer Abnehmer Krippenfiguren, ganze Krippenspiele herstellt. Stilistisch wandelt sie diese immer neu, versucht künstlerisch voranzukommen, doch die Produktion gehört klar in den fliessenden Bereich zwischen Kunst und Kunsthandwerk.

Georgette Klein Krippe

Georgette Tentori-Klein, Krippe

Man spürt in diesen Figuren, dass es ihr dabei nicht um die Geburt Jesu in einem religiösen Sinn geht, sondern um die daran beteiligten Menschen. Ihre eigene Glaubenswelt wäre wohl eher in einem pantheistischen Kosmos zu verorten, wobei Ende der 1950er-Jahre der Einfluss fernöstlicher Glaubensrichtungen stetig stärker wird (was dem Zeitklima entspricht). Um Georgette Tentori-Kleins Schaffen zu situieren, muss man ihre Zeitlichkeit bedenken. In der Schweiz hat die Kunst der Moderne in den 1930er-Jahren einen schweren Stand – zwar gibt es 1936 im Kunsthaus Zürich eine Ausstellung zu «Zeitproblemen in der Schweizer Kunst», die erstmals die Bestrebungen der «Zürcher Konkreten» einerseits, der «Surrealisten» andererseits aufzeigt.

Georgette Klein Scanarelle

Georgette Tentori-Klein, «Scanarelle»

Es ist jedoch erst ein kleines Publikum, das diesen Aufbruch mitträgt. Vorherrschend ist in der Malerei nach wie vor der Post-Impressionismus und in der Skulptur neben realistischen auch gemässigt expressive Formen. Dass Wilhelm Lehmbruck – möglicherweise auch Käthe Kollwitz – für Georgette Tentori-Klein von Bedeutung waren, zeigen ihre Arbeiten deutlich. Sie ist keine Pionierin. Und im abgeschiedenen Barbengo fehlen ihr die urbanen Anregungen. Sie liest viel – insbesondere die Neue Zürcher Zeitung – und schneidet alle Artikel aus, die ihr im kulturellen Bereich wichtig scheinen und fügt sie zu thematischen Gruppen. Die NZZ war aber alles andere als eine progressive Zeitung; und so festigt sie indirekt den vom frühen 20. Jh. geprägten Stil der Arbeiten Georgette Kleins. Parallel zum plastischen Schaffen widmet sich Georgette Klein intensiv dem Figurentheater. Mehr und mehr befasst sie sich auch literarisch mit den Möglichkeiten von dessen spezifischem Ausdruck.

Was ist Improvisation, was ist Komik, fragt sie sich, studiert die Charaktere der italienischen Comedia dell’arte. Die Kinder des Dorfes in Barbengo testen mir ihr die Praxis. Sie tritt mit ihren Stücken unter anderem im Rahmen von Einladungen des Lyceum-Clubs in Lugano auf10a sowie an weiteren Orten; insbesondere in der Zeit, in der sie in Kontakt steht mit der im Tessin wohnhaften Zürcher Theaterjournalistin und Puppenspielerin Olga Gloor (1913–2001). Es ist auch ein Vortrag zur Theorie des Figurentheaters überliefert, der 1954 in der Schweizerischen Theaterzeitung erschien. Auffallend ist, wie sie in den Stücken parallel zur erzählten Geschichte die realen Gegebenheiten des Puppentheaters integriert.

Einem Glücksfall ist es zu verdanken, dass ein Konvolut von über 25 Figuren bei der Zürcher Künstlerin und Puppenspielerin Elisabetha Bleisch beisammen blieb. Ihr Vater – ebenfalls (unter anderem) Puppenspieler – hat die Figuren (verteilt über viele Jahre) in Morcote gekauft. Sie zeigen im Vergleich zu den frühen Marionetten, welche Professionalität Georgette Tentori-Klein in Ausdruck, Gebärde und – wie Elisabetha Bleisch bestätigt – auch bezüglich Funktionalität erreicht hat.

Einem zweiten Glücksfall ist verdanken, dass die Stiftung 2012 von gut einem Dutzend Handpuppen aus dem einstigen Besitz von Olga Gloor Kenntnis erhielt. Und last but not least kamen 2013 sechs weitere Burratini in der Sammlung des Landesmuseums in Karlsruhe zum Vorschein, die 1960 im Rahmen einer Ausstellung für je 50 Franken angekauft wurden.

Georgette Klein Tonkopf

Georgette Tentori-Klein, Tonkopf

Wie wichtig ihr dabei der Gesichtsausdruck der Figuren war, zeigt sich an den unzähligen Tonköpfen, die sie als eine Art Skizzen für die Figuren anfertigte. Da gibt es die Bösen, die Hinterlistigen, die Machtausstrahlenden, die Teuflischen, die Dummen, die Einfältigen, die Eitlen, die Einfachen und viele mehr.

Schon in den 1920er-Jahren vermerkt Tentori-Klein im Tagebuch: «Vegetarisch essen». Und offenbar behielt sie das bei, was zur Anekdote führte, dass Luigi dann und wann heim zu seiner Mutter gegangen sein soll, um mal wieder ein gehöriges Stück Fleisch zu bekommen … es ist aus den Tagebüchern gut herauszuspüren, dass die zwei ihr Leben ziemlich autonom voneinander eingerichtet hatten. Luigi baute hiezu bereits 1931 das sogenannte «Grotto» für sich um, das ihm insbesondere nach seiner Entlassung als Elektriker (1940) und im Zuge seiner wechselhaften psychischen Verfassung (ab ca. 1948) als Refugium diente. 1955 starb Luigi Tentori.

Lange Zeit war der Garten von Sciaredo von Reben geprägt, doch mit Georgette Tentori-Kleins gesteigertem Interesse an natürlicher Kost, an Garten, Pflanzen, Kräutern und Gewürzen wandelt sich das Gelände mehr und mehr in einen Obst- und Gemüsegarten. In Heften notiert sie ihre Beobachtungen und Erkenntnisse, zeichnet auch viel. Dabei ist es ihr ein Anliegen, den Gesamtkontext nicht aus den Augen zu verlieren – das Haus, die Gartenanlage und das Wachsende in einen gestalteten «Kosmos» zu vereinen.11

Nach Luigis Tod blüht Georgette Tentori-Klein noch einmal auf; ihr bildhauerisches Werk entfaltet sich wie nie zuvor. Und ab ca. 1960 bis zu ihrem Tod im Jahre 1963 entsteht ein eigentliches Alterswerk. Es ist, als würde ihr bewusst, dass sie nun endlich «Kunst» schaffen, zu einer rein geistigen Inhalten gewidmeten Formensprache vordringen müsse.

Georgette Klein «Wachstum»Georgette Klein FischGeorgette Klein «Skulptur aufstrebend»

Georgette Tentori-Klein, Skulpturen «Wachstum», «Fisch» und «Aufstrebend»

Die Dinge sollten ganz aus sich selbst wachsen und dabei doch die Naturgesetze versinnbildlichen. Mehr denn je nutzt sie nun das Tagebuch, um Gedanken zu ihrer Kunst zu formulieren. Nicht unerwartet taucht dabei der Name C. G. Jung auf, war ihr Streben doch schon immer die Abkehr vom Individuellen hin zum Kollektiven, das als unbewusster Urgrund die Erscheinung in der Gegenwart lenkt.

«Ursprünglich ist alles subjektiv; wird immer objektiver, je weiter wir es von uns geschoben haben, d.h. je besser wir es sehen können … die Chinesen, Johann Sebastian Bach, C.G. Jung – das sind die Führer … man muss ein inneres, noch unbekanntes und chaotisches in ein nach aussen sichtbares Gleichgewicht bringen … man ist jetzt so eingerichtet, keine Zeit mehr zu verlieren. Das ist die neue Intensität. Die Reife der Frucht, die abfallen muss. Gekoppelt mit dem Wissen, etwas geben zu können. Erfüllung, die ungeheuer wohltut. Es ist in einem eine nie gehabte Unbeirrbarkeit. Was kann man schon machen bevor man 50 ist? Man hat  ja die Lebensinhalte noch gar nicht … Wahrscheinlich kommt man zum Schluss, dass es das, was wir gemeinhin «Idee» (zu einer künstlerischen Arbeit) nennen, gar nicht gibt, sondern: Man fängt an einem Punkte an und arbeitet von da weiter. Und es kommt darauf an, ob man tief genug zu steigen versteht, bis man die Zone des Unbewussten erreicht, aus der Neues quillt.»

Das Tagebuch von 1963, d.h. des 70sten Altersjahrs, ist wahrscheinlich das Schönste von allen: «Ich bin der Fels und mein Menschsein verschmilzt mit ihm – vorher war er blosse Naturgewalt – Nicht bezähmen muss ich ihn, nur streicheln. Alle Annäherung muss behutsam geschehen … Nicht zerstören darf ich ihn, nur neben ihm hergehen. Verbrüderung. Das sind die Pausen in der Arbeit, in denen sie im Unterbewusstsein reift.» Im September 1963 stirbt Georgette Tentori-Klein; ein Bekannter findet sie tot auf der Treppe vor dem Haus liegend. Vermutlich erlag sie einem Herzinfarkt.

1 Das Todesdatum ist nicht bekannt.

2 Briefe und wenige Fotos berichten davon.

3 Gemäss Bericht des Kunstvereins über die Sammlungen, Bibliothek und Ausstellungen April 1920 bis Ende März 1921. Interessant ist die Beobachtung, dass mit Richard Bühler (1879–1967) der Präsident des Kunstvereins in dieser Zeit ein Textilunternehmer ist, dem textiles Kunstschaffen zweifellos ein Anliegen war.

4 Das Puppenspiel hatte seit dem frühen 20. Jh. Hochkonjunktur, insbesondere an der Kunstgewerbeschule Zürich. Es bot auf kleinem Raum die Möglichkeit mit modernem Theater zu experimentieren. Bedeutende Kunstschaffende schufen hier, in Deutschland und anderswo Marionetten – man denke neben Carl Fischer etwa an Sophie Täuber Arp, an Otto Morach, an Oskar Schlemmer, Paul Klee, an Fernand und Elsi Giauque und andere mehr. Die Figurentheater-Publizistin Hana Ribi zeigte die Einflüsse dieser Bewegung auf Georgette Tentori-Kleins Schaffen in einem Vortrag (April 2013) sehr schön auf.

4a Fotografien um 1925 zeigen, dass Georgette Tentori-Klein sich in ihren zweifellos selbst genähten Kleidern dem Bauhaus verpflichtet fühlte. Bis ins hohe Alter behält sie den Stil der weiten Kleider ohne körperliche Einengung (dafür mit vielen praktischen Taschen) bei.

5 Saffa ist die gängige Abkürzung für «Schweizerische Ausstellung für Frauenfragen».

5a Die Figuren waren bisher dem Puppenspiel-Künstler Jakob Flach (1894–1982) zugeschrieben, der wie Georgette Klein aus Winterthur stammte und später ein Figurentheater in Ascona betrieb. Georgette Tentori-Klein hatte ihm 1953 einen Teil ihres Fundus an Marionetten vermacht.

6 ab 1928 wird das Tagebuch zweisprachig, später – zusammen mit italienisch – dreisprachig..

8 Man vergleiche hiezu u.a. die Texte von Willi Christen auf der Website und das vom Tessiner Architekten Lukas Meyer herausgegebene Heft «contesto 1».

9 Es ist bis heute nicht ganz klar, wann sie von den Marionetten zu den Handpuppen wechselte, vermutlich im Laufe der 1930er-Jahre.

10 Leider sind im Nachlass keine eindeutig in den 1930er-Jahren entstandene Holzskulpturen erhalten, sodass die Einschätzung einzig auf Fotos beruht.

10a  Ein köstliches, erstaunlich emanzipiertes, französisches Stück von 1946/47, das als Rolle mit eingefügten Zeichnungen erhalten ist, erzählt von einer «femme malheureuse». Die Protagonistin sieht sich mit ihren Nerven am Ende und will sich von ihrem sie viel zu wenig wertschätzenden Ehemann scheiden lassen. Nachdem sie sich «verschönert» hat, fragt sie einen Advokaten, eine Freundin um Rat – beide haben keine Verständnis. Letztere schickt sie in einen neu eröffneten, amerikanischen Laden, wo man die Seele umprogrammieren kann, in einen stummen Fisch zum Beispiel oder der Seele eine surrealistische Färbung geben … doch das scheint der «femme» viel zu kompliziert und unsicher. Es bleibe ihr immer noch der Selbstmord, sagt sie. Doch die Verkäuferin meint lakonisch, das sei just das, was eine Holzpuppe nicht könne …  

11 Siehe hiezu den gesonderen Text zum Garten auf dieser Website.

Dieser Text wurde von Annelise Zwez im März 2012 verfasst. Um dem Gesamtwerk von Georgette Tentori-Klein gerecht zu werden, bedarf es weiterer Texte, die die in diesem Essay lediglich angedeuteten Themen- und Schaffensbereiche verfeinert interpretieren.