GEO im Spiegel ihrer Tagebücher

Georgette Klein als junge Fraufj 

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Zufriedenheit ist das langweiligste was man sich vorstellen kann. Je ne suis pas faite pour me contenter du minimum.(Tagebücher)

 

Ein widerständiges Leben

von Gisa Lang-Hein

Georgette Klein führte ein widerständiges Leben. Das tönt nach Aufbruch, Mut und Abenteuerlust, nach einem Menschen, der nicht gewillt ist, sich mit den vorgegebenen Begrenzungen seiner biografischen Situation abzufinden. War diese Frau aus gutbürgerlichem deutsch-schweizer Haus solch ein Mensch? War diese 1893 in Winterthur geborene Georgette Klein eine wagemutige Abenteurerin, eine frühe Feministin, eine Wegbereiterin für neue Frauenrollen?

Gewünscht mag sie es sich haben, und doch sagt eben diese Frau im gleichen Atemzug von sich, indem sie mit ihrem Namen spielt: Viel zu lange war ich immer Georgette Klein-Mut. (1953) Oder Mein herausragendes Kennzeichen sind Scham und Furcht. (1934) Was steht hinter dieser widersprüchlichen Selbstcharakteristik? Welche Begebenheiten, Erlebnisse und Erfahrungen haben zu einem solch zwiespältigen Selbstbildnis geführt? Die Antworten oder vorsichtiger die Hinweise auf mögliche Gründe finden sich in ihren Tagebüchern, in diesen linierten und karierten Schulheften, über 100 an der Zahl, deren Seiten Georgette Klein von 1916 bis zu ihrem Tod im Jahre 1963 mit geradezu besessener Akribie beschrieben hat.

Auch wenn sie potentielle spätere Leser warnt: Tagebuchaufzeichnungen haben den Zweck des Geschriebenwerdens, nicht den des Gelesenwerdens. (1946) Oder: Das Tagebuch ist die Sammlung der abgetragenen seelischen Kleider. (1943), so heisst es an anderer Stelle durchaus selbstbewusst: Immer deutlicher wird dieses Tagebuch mein Testament, für den Fall, dass mir nicht Zeit bliebe etwas Besseres zu machen. (1955) Ganz sicher weiss sie, dass diese schreibende Selbstbespiegelung ein Ersatz ist für den Umgang mit gleichgesinnten Menschen, traces du passage d’une personne qui n’arrive pas a` s’incorporer dans la société. (1957)

Die junge Georgette Klein allerdings war keineswegs im äusserlichen Sinne einsam oder von menschlicher Gesellschaft ausgeschlossen. Im Gegenteil, als Germanistin mit abgeschlossenem Studium, als gelegentliche Gastgeigerin im Winterthurer Stadtorchester und als Textilkünstlerin, auf die man aufmerksam zu werden beginnt, weisen alle Zeichen ihrer jungen Jahre auf Erfolg und soziale Anerkennung. Doch dann, im Alter von 38 Jahren, finden wir sie plötzlich als Frau eines um sieben Jahre älteren einfachen Bauern und Handwerkers in einem abgelegenen Tessiner Dorf lebend, entzweit mit der Familie, ohne namhaften Freundeskreis, in prekären finanziellen Verhältnissen, als Künstlerin langsam vergessen. Als hätten sich Widersprüche und Zwiespältigkeit ihrer Selbstcharakteristik im äusseren Lebem  manifestiert.

Die Eltern

Im Jahre 1893 wird dem Ehepaar Louise und Rodolfo Klein als erstes Kind eine Tochter geboren. Vielleicht wäre dem Herrn Direktor und seiner Frau Gemahlin ein Sohn willkommener gewesen, wie sich aufgrund der Namensgebung vermuten lässt. So wird aus George eben Georgette, was immerhin auch ganz gut passt, stammt doch die Mutter Louise, geborene Châtelain aus einer jurassischen Familie und ist französischer Muttersprache. Als Direktor in der bekannten Firma Sulzer in Winterthur kann Rodolfo Klein seiner Familie ein sorgenfreies und bürgerlich angesehenes Leben bieten. Zwei Jahre später kommt wieder eine Tochter zu Welt. Diesmal wird aus dem erwarteten Marcel eine Marcelle und damit ist die Hoffnung auf männliche Nachkommen zu Ende, die Familie ist komplett. Georgette oder Geo, wie sie sich selber nennt, ist der Liebling des Vaters, der allerdings in damals durchaus üblicher Art und Weise selten zu Hause ist und ganz in seinem Beruf aufgeht. Im Tagebuch bringt Georgette die Rollenverteilung, die in ihrer Familie herrscht einmal auf die kurze Formel: Pa erstarrte im Geschäftsleben, Ma verbohrte sich im Haus. (1930)

Wie aus den wenigen späteren Andeutungen der beiden Schwestern hervorgeht, ist die Ehe der Eltern nicht unbedingt glücklich gewesen, die Schuld daran wird eher der Mutter zugeschrieben. Sie sei eine in konventionellen sozialen Gebärden erstarrte Frau ohne menschliche Wärme gewesen, der nichts so wichtig war wie das, was die Leute sagen könnten. Deshalb fehlte ihr auch jegliches Verständnis für die Befreiungs- und Ausbruchsversuche ihrer beiden Töchter aus der lauwarmen Bequemlichkeit und Besorgtheit des Elternhauses . Bei Georgette mag sie das Geigenspiel und ihre musikalische Begabung allenfalls noch akzeptiert haben, jeden weitergehenden künstlerischen Ehrgeiz dagegen versuchte sie eher zu bremsen. Noch als 37-jährige schreibt die Tochter in ihrem Tagebuch: Ich muss mir beständig vor Augen halten, dass meine Mutter nichts anderes versucht und erstrebt hat als mich unsicher zu machen. (1930)

Auch wenn hier eigene Unsicherheit und Ängstlichkeit allzu bereitwillig einer omnipräsenten Mutterfigur zugeschrieben werden, bleibt doch für ihr Leben das gestörte Verhältnis zur eigenen Mutter bestimmend. Allein die Tatsache, dass sie, als sie es endlich wagt – gegen den Willen der Mutter – ihre langen Haare abzuschneiden, um dann zeit ihres Lebens mit einer selbstfabrizierten maskulinen Kurzhaarfrisur herumzulaufen, beweist, wie wichtig selbst in ganz äusserlichen Dingen der mütterliche Einfluss war. Noch als sie längst die Lebensmitte überschritten hat, behauptet sie mit trotziger Sicherheit: Mit meiner Mutter habe ich gar nichts gemeinsam.  (1945)

Mit dem Vater dagegen sieht sie sich als seelenverwandt, ungeachtet der Tatsache, dass sie auch mit ihm kein wirklich lebendiges Verhältnis hatte, ja dass auch zu ihm viele Jahre lang jeder Kontakt abgebrochen war. Sie glaubt sich ihm in einer gewissen Identität der Grazilität und Mangel an Robustheit (1945) verbunden, die sie ihm handkehrum wieder vorwirft. So beschreibt sie im Tagebuch ausführlich eine Episode auf dem Luganersee, wo die Familie ein Motorboot besass, mit dem sie hin und wieder Ausflüge unternahm. Einmal hatten sie weit draussen auf dem Wasser eine Motorpanne, die erst nach stundenlangem Warten und mit der Hilfe eines fremden Bootsbesitzers behoben werden konnte. Als Grund stellte sich die simple Fehlstellung eines kleinen Hebels heraus. Spter bemerkt die Tochter dazu in ihrem Tagebuch: Was hinterher drückt, was auf mir lastet, das ist der Mangel an Männlichkeit bei meinem Vater, der Mangel an Kenntnis und Sicherheit in realsten Dingen der Mechanik. Er sucht keinen Moment die Situation zu analysieren ... er sollte einen Sohn haben. Dieser allein könnte ihn so ersetzen, dass er meinte selbst zu handeln und nicht beleidigt wäre. (1932)

Sie schämt sich für ihren unmännlichen Vater und ist gleichzeitig von ihrem eignen Minderwert überzeugt, da sie eben nur eine Tochter und nicht der heilbringende Sohn ist. Ob sie diesen Makel antizipiert oder ob das Verhalten des Vaters wirklich dazu Anlass bot, ist nicht einfach zu entscheiden. Denn es gibt andere Bemerkungen in ihren Tagebüchern, die den Vater zwar als erfolgreichen Berufsmenschen und hochangesehenen Bü rger charakterisieren, der seinen Erfolg aber mit dem Verzicht auf jede Spontaneität, auf jeden kleinsten Funken von Lebensfreude bezahlt hat. Und sie, die Tochter, glaubt sich berufen, quasi stellvertretend diese von ihm unterdrückte Seite seiner Persönlichkeit zu leben: Je pense que je dois payer les dettes que PA a consacré envers la vie. Que c’est toute sa vitalité suprimée qui c’est reveillée en moi et qui veut être vécue. (1928)

Auffällig häufig bedient sie sich beim Thema Eltern der französischen Sprache, die sie dank ihrer französisch sprechenden Mutter natürlich bestens beherrscht. Und immer wieder sind es Vorwürfe, ist es Kritik und manchmal sogar verzweifelte Wut, die sie an die Adresse ihrer Eltern richtet. Les parents continuent a vivre comme des parasytes dans les âmes de leurs enfants. (1930) oder Was sind die Eltern? Eine Episode in deinem Leben. Sollte dir an einer Episode das Leben zu Grunde gehen? (1931) Mit  dem Vater wird sie sich erst auf seinem Sterbebett im Jahre 1939 versöhnen. Das Verhältnis zur Mutter bleibt bis zu ihrem Lebensende auf kühle Höflichkeit beschänkt. Sie wird fast sechzig Jahre alt, bis es ihr gelingt, ihre Eltern etwas gelassener und vielleicht auch etwas gerechter zu sehen. Vor allem die Tatsache, dass sie es beiden Töchtern ermöglichten zu studieren, was im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts beileibe nichts Selbstverständliches war, rechnet sie ihnen jetzt hoch an.

Auch für die Förderung ihrer herausragenden musikalischen Begabung sowie die Erlaubnis zum Besuch von Kursen an der Kunstgewerbeschule kann sie rückblickend eine gewisse Dankbarkeit aufbringen. Dass auch eigene Mutlosigkeit und Ängstlichkeit sie so lange in der elterlichen Abhängigkeit festhielten, wird ihr später klar, besonders dann, wenn sie wieder und wieder diese Geschichte bedenkt, die sie als junge Studentin so restlos aus der Bahn geworfen hat: Diese Liebesgeschichte, die eigentlich nicht wirklich eine war, diese sie bis ins Alter beschäftigende Affäre – und auch das ist wohl nicht das richtige Wort – mit einem jungen Mann namens Fritz Bodmer.

Fritz Bodmer

Georgette war etwa 20 Jahre alt, als sie den um eine paar Jahre älteren Studenten der Sprachwissenschaften kennenlernte. Seine familäre Herkunft war wohl nicht so beschaffen, dass er als möglicher Kandidat für eine Ehe mit der Direktorentochter Georgette Klein infrage kam. Jedenfalls reagierten ihre Eltern sofort mit klarer Ablehnung. Georgette jedoch war fasziniert von ihm. Sie akzeptierte ihn als geistigen Mentor, der sie in die ihr unbekannten Welten einer universalen sozialen Gerechtigkeit einführte, denn Fritz Bodmer war überzeugter Sozialist. Sie bewunderte seine intellektuelle Sicherheit, sein rhetorisches Talent, das ihr selbst so sehr abging, und – sie liebte ihn.

Das elterliche Verbot missachtend besuchte sie ihn auf seiner Studentenbude, liess sich stundenlang belehren und betete ihn an. Doch als der Mann ihr dann eindeutige Avancen erotischer Art zu machen begann, wehrte sie erschreckt und erschrocken ab. Eine Weile lang versuchte Fritz, der von dieser jungen Jeanne D’Arc aus gutbürgerlichem Milieu ebenso angezogen war, ihren Widerstand zu besiegen, musste aber eines Tages die Vergeblichkeit seines Bemühens einsehen und zog sich enttäuscht zurück. Für Georgette bedeutete der Abschied eine mentale Katastrophe, von der sie sich nie mehr ganz erholen sollte. Angst vor dem Sexuellen ist die einzige Erklärung für das Scheitern meines Verhältnisses zu Bodmer – somit meines ganzen Lebens – das hernach nur Flickwerk war. (1945)

Wenn sie das im Alter von mehr als 50 Jahren noch so sieht, ist evident, wie wichtig dieser Mann für sie war. Als Geliebten hatte sie ihn verloren, doch nach einer gewissen Zeit war er zumindest für eine Freundschaft bereit, indem er ihrem Drängen nachgab. Ganze zehn Jahre zog sich dieses Verhältnis hin; es gab sporadische Treffen und intensive Briefwechsel. Sie blieb die sich versagende Liebende. Er mag sich durch ihre Treue und Anhänglichkeit geschmeichelt gefühlt haben, bis es ihn zu langweilen begann und er aus ihrem Gesichtsfeld verschwand. Georgette ist da 31 Jahre alt. Meine schlimmste Zeit war nach 1924, als ich nach und nach Bodmer verlor und nicht wusste, wo aus noch ein, und das dauerte Jahre. (1951)

Für das Scheitern dieser Beziehung gibt es wohl doch verschiedene Gründe. Da war zum einem das konservative auf äussere Akzeptanz bedachte Elternhaus und eine der Zeit entsprechende körper- und sinnenfeindliche Erziehung. Da war aber auch die eigene Ängstlichkeit und Unterwürfigkeit unter den männlichen Partner, dessen intellektuelle Fähigkeiten ins Grandiose gesteigert gesehen wurden. Und daneben gab es eine gewisse Schroffheit und Eigenständigkeit in ihrem Verhalten, das ihr die Hingabe verbot. Auch hier in dieser für sie so wichtigen Liebesbeziehung finden sich die für ihre Person bezeichnenden Widersprüche: Sie war eine brillante intellektuelle Gesprächspartnerin und gleichzeitig eine zutiefst verunsicherte Person.

Ausbildung

So hat sie an der Universität Zürich ein Germanistikstudium absolviert und 1919 mit der Promotion zum Dr. phil abgeschlossen. Als Thema ihrer Doktorarbeit hat sie die Lyrik von Ferdinand Freiligrath (1810-1876) gewählt. Er war ein Dichter des Jungen Deutschland und enger Vertrauter von Karl Marx. Es liegt nahe anzunehmen, dass die Wahl des Themas auf Hinweise und Gespräche mit Fritz Bodmer zurückzuführen ist. Freiligrath ist ein politisch engagierter Dichter, dessen soziale Gesinnung in allen seinen Werken zum Ausdruck kommt.

Er wandte sich gegen die herrschende Reaktion, wie diese Epoche in den Geschichtsbü chern heisst, und bekannte sich zum Arbeiterstand. Wie sein berühmterer Zeitgenosse Heinrich Heine wurde er politisch verfolgt und entzog sich drohender Verhaftung durch die Flucht. Man kann noch weiter spekulieren und in der Wahl gerade eines solchen Themas auch einen Affront gegen den Vater sehen, der als Direktor in einer grossen Maschinenfabrik auf der Seite der Feinde stand. Zeit ihres Lebens wird Georgette dem sozialen Gedanken treu bleiben, die Entwicklung des Bolschewismus im fleissigen Studium seiner grundlegenden Werke verfolgen und für sich persönlich  jeden nicht lebensnotwendigen Besitz ablehnen.

Die mündliche Doktorprüfung erlebt sie als Desaster: Obgleich ich auf alle Fragen durchaus eine Antwort wusste, konnte ich nur einzelne Worte stammeln, und nur dem Wohlwollen der Prüfer war es zu verdanken, dass ich mit einem RITE (ausreichend) den Saal verlassen konnte. (1930) Die rhetorische Unbeholfenheit und Schüchternheit hat sie bis ins Alter geplagt und ihre Schwierigkeit bei spontanen sozialen Kontakten begründet. Für den ihr eignen Ehrgeiz und die hohen Ansprüche, die sie an sich selber stellt, ist diese Prüfungsnote eine Katastrophe. Jede und jeder hätte gedacht: was soll’s – Hauptsache ich habe bestanden. Nicht so Georgette Klein. Sie getraut sich nicht, mit dem RITE die Bewerbung um eine Stelle als Lehrerin anzugehen, obwohl sie sehr gerne unterrichtet hätte. So bleibt sie nach Abschluss des Studiums zu Hause wohnen und widmet sich vorerst ihren beiden anderen Begabungen: der Musik und der künstlerischen Gestaltung.

Im Musikkollegium Winterthur – einem reinen Männerorchester – spielt sie als Gastviolonistin die erste Geige. Im Gewerbe- bzw. Kunstmuseum Winterthur stellt sie ihre gewebten Bildteppiche und Baumwollstickereien aus. Die von ihr selbst entworfenen und gewebten Bildteppiche erregen Aufmerksamkeit. 1923 wird sie Mitglied des Schweizerischen Werkbundes. Eigenartig bleibt, dass sie sich zwar durchaus als künstlerische Gestalterin versteht, daneben aber immer das Gefühl hat, sie müsse doch noch so etwas wie einen anständigen Beruf haben. Ich hätte im Leben an einen Ort hinkommen sollen, wo viel Verantwortung auf mich geladen worden wäre. So aber bleibt immer ein viel zu grosser Teil meiner Energien uninteressiert und treibt auf der Suche umher. (1930)

Mit der ihr eigenen Widersprüchlichkeit kann sie aber auch feststellen: Ich habe viel zu grosse Freude am Leben selbst, um mich hinter einem Beruf zu verschanzen. (1930) Eine einigermassen einträgliche Stelle zur Existenzsicherung wird sie nie erlangen und immer im landläufigen Sinne arm bleiben. Zwar haben sie und ihre Schwester Marcelle bei ihrer Volljährigkeit ein sogenanntes Spargeld von je Franken 10’000 erhalten, was für damalige Zeiten eine erkleckliche Summe ist, aber ein Leben lang davon zehren konnte man auch damals nicht. Als der Vater 1939 stirbt, wäre eigentlich der Zeitpunkt für ein Teilerbe des in den Dreissigerjahren schon dezimierten Familienvermögens gekommen, doch hatte der Vater seine Frau als Alleinerbin eingesetzt und die Töchter gehen leer aus.

Die herrschenden Vorstellungen von Berufen für höhere Töchter – und seien sie noch so gut ausgebildet – sind für die beiden unangepassten Klein-Schwestern eine unüberwindbare Barriere: Die anderen sagen Marcelle und ich wissen soviel. Warum seid ihr nicht zu besseren Stellungen gekommen? Aber es ist umgekehrt: je mehr man weiss, um so weniger passt man sich einer Stellung an. (1953) Marcelle hatte ebenfalls ein Studium abgeschlossen (in Geschichte), dann einige Jahre als Sekretärin für einen Professor gearbeitet und später als Sprachlehrerin in der Strafanstalt Regensdorf. Sie wollte ein Leben ganz ohne Besitz führen, und so wohnte sie konsequenterweise Zeit ihres Lebens (sie starb 1986) in einem Mansardenzimmer ohne Küche und Bad. Bücher waren ihr einziger Luxus.

Von den älteren Zeitgenossen erinnern sich noch manche an diese Frau mit dem dichten grauen Haarbusch, die mit etwas abwesend freundlichem Gesichtsausdruck durch die Quartierstrassen von Zürich-Hottingen lief. Sie galt schon zu ihren Lebzeiten als Original. Georgette ist fast im Pensionsalter als sie die Gründe für ihr und ihrer Schwester Scheitern beim Aufbau einer beruflichen Karriere auf den selbstbewussten und ideologisch ein wenig abgehobenen Nenner bringt: Marcelle und ich können nirgends unterkommen, weil wir unbequeme Leute sind, wir schmeicheln dem Bourgeois nicht mit seinen bequemen haltbaren Idealen. (1953) Auch als einigermassen erfolgreiche Künstlerin hält sie weiterhin nach einem Brotberuf Ausschau. Da sie sich immer schon sehr für Pflanzen interessiert hat, kommt sie als 37-Jährige auf die Idee, eine Gartenbauschule zu besuchen. Sie verbringt ein paar Monate in Estervayer-le-Lac in der welschen Schweiz.
 

Heirat

Vater Klein ist 1930 in Pension gegangen. Der Hauptwohnsitz wird von Winterthur nach Barbengo, einem kleinen Dorf in der Nähe von Lugano, verlegt, wo die Familie einen wunderschönen Palazzo mitten im Ort besitzt, den der Vater 1928 gekauft hatte. Im Jahr zuvor hatte Georgette sich auf einer einsamen Wanderung im abschüssigen Gelände in der Umgebung des Dorfes den Fussknöchel so gründlich verknackst, dass sie wegen der Schmerzen nicht mehr weiterlaufen konnte. Sie wurde von einem Bewohner des Dorfes gefunden, der sie stützend und tragend nach Hause brachte. Dieser Helfer in der Not war Luigi Tentori, ein Handwerker und Bauer, den sie später heiraten wird. Mit dieser Ehe vollzog sie den Bruch mit ihrem Elternhaus und ihrer bürgerlichen Herkunft, auch wenn eine formelle Höflichkeit des Umgangs gewahrt wurde.

War die Geschichte mit Fritz Bodmer und die Auseinandersetzung mit den Ideen des Sozialismus eher auf der intellektuellen Ebene angesiedelt, so zieht sie mit dieser Ehe radikale und für sich selbst einschneidende Konsequenzen. Viel ist von Freunden und Bekannten darüber gerätselt worden, was diese gescheite und hochgebildete Frau dazu bewogen hat, sich als Lebenspartner einen einfachen Bauern und Handwerker zu nehmen (Luigi war Elektriker), und der, als sie ihn kennenlernte, die 40 bereits überschritten hatte.

Von einem coup de foudre kann wohl bei beiden nicht die Rede gewesen sein. So hält sie in ihrem Tagebuch fest: Dass ich Luigi gefreit und gewissermassen hineingeleimt habe. (1930)  Sie ist immerhin schon 38 Jahre alt und offenbar noch Jungfrau. Die erste gemeinsame Nacht mit Luigi wird im Tagebuch auf vielen Seiten gefeiert: Mit dem Moment, wo du auch den Körper als Einsatz gibst, hast du die letzte Ich-Schranke gebrochen. Der Weg zu allen Geschenken geht über den geschenkten Körper. (1930) oder: Die Purifikation, die ich von diesem Sommer erwarte, wird erreicht sein: wenn ich mit der gleichen Verehrung wie zur Erde und zur Sonne auch zur Vereinigung zweier Körper aufblicken kann, vollkommen frei von Hintergedanken. Habe ich dies ganz begriffen, so werde ich auch von jeder Angst freisein. (1930)

Der Monte Verità ist nicht weit, weder räumlich noch geistig – konkrete Kontakte von Georgette Klein mit der Gemeinschaft sind jedoch nicht belegt. Luigi, der sie in die neue Körperwelt einführt, wird zum Inbegriff des einfachen, erdnahen, unverdorbenem Naturmenschen stilisiert: Dieser Mensch braucht keine Worte als Brücke. Der Ehe als Institution steht sie weiterhin kritisch gegenüber, sowohl für sich selbst als auch im gesamtgesellschaftlichen Sinne: Vielleicht ist die Ehe für uns in so vielen Fällen unerträglich, weil überhaupt die monogame Ehe für uns nicht richtig ist. Weil nämlich eine Frau allein constitutionell in den wenigsten Fällen imstande ist das Mass von Erotik zu ertragen, das ein Mann hat. So dass sich entweder der Mann einschränken muss oder die Frau müde wird. (1930) Und an Luigi schreibt sie etwa zur gleichen Zeit: Ho sempre agli occhi il pensiero della grande independenza che c’è nel mio carattere e che reste contraria al matrimonio. (1930)

Man ahnt bereits hier, dass diese Ehe keine einfache Geschichte sein wird, für beide nicht, auch wenn sie bis ans Lebensende von Luigi Bestand haben wird. Das ganze Risiko der Ehe beruht darauf: Ob sich hinter dem liebendem Mann auch ein wahrer Freund versteckt. Oft ertappe ich mich, dass ich schon auf der Lauer bin nach diesem Freund, nach diesem Nachher. (1932) Für diesen Freund  war Luigi wohl nicht die geeignete Person, zumindest dann nicht, wenn man mit dem Begriff auch eine gewisse Gleichgestimmtheit im Denken und Handeln verbindet. Doch in einem anderen, ganz konkreten Sinne erwies sich die Verbindung mit Luigi Tentori als Glücksfall in ihrem Leben.

Sciaredo

Unweit des Dorfes, ein paar hundert Meter südwestlich des Friedhofs, etwas höher als die nahe Kirche mit Campanile erhebt sich ein kleiner Hügel, einer der südlichen Ausläufer der Colina d’Oro. Dieser Hügel und das ihn umgebende Land gehörte Luigi Tentori, der es geerbt hatte und auf den schmalen Terrassen seine Reben anbaute. Auf diesem Hügel, der den Flurnamen Sciaredo trägt, will Georgette Tentori-Klein wohnen. Fasziniert von der Magie des Ortes, von wo kein anderes Haus zu sehen ist, wo der Blick frei in alle vier Himmelsrichtungen schweifen kann, beginnt sie Pläne für ihr Traumhaus zu zeichnen.

Mutig und unbekümmert entwirft sie einen Baukörper, den sie als das genau auf mich zugeschnittene Kleid bezeichnet. Haus und Landschaft sollen eins sein und eins ins andere übergehen. Tutto il tereno attorno alla casa sarà come un grande giardino senza porte, senza scepi. (1932) Ohne dass sie je Architektur studiert hatte, ohne Ausbildung in Statik oder Materialkunde, allein im Vertrauen auf ihr künstlerisches Wissen und Können geht sie ans Werk. In nur drei Monaten von Juli bis September 1932 entsteht der Bau, von Luigi, der eine Lehre als Elektriker gemacht hatte, mit ein paar wenigen Hilfskräften aus dem Dorf ausgeführt. Die Materialien werden mit Pferdefuhrwerken auf den Hügel gebracht.

1927 hatte sie die berühmte Wohnausstellung in Stuttgart besucht und dort die Musterwohnungen der Weissenhofsiedlung gesehen. Hier wurde damals Architekturgeschichte geschrieben. So wurde Sciaredo – wie das Haus schliesslich genannt wurde – zu einem im besten Sinne modernen Haus, das aber doch die unverwechselbare Handschrift seiner eigenwilligen Schöpferin trägt. Jahrelang, insbesondere von den 50-er Jahren an bis zu ihrem Lebensende arbeitet Georgette Tentori-Klein mit Hingabe an der Gestaltung der Umgebung von Sciaredo. Sie pflanzt Palmen, legt einen Gemüsegarten an und säumt den langen Auffahrtsweg mit Rosenbüschen. In späteren Jahren, als sie nicht mehr so recht an ihren künstlerischen Durchbruch glaubte, sieht sie das Haus und seine Umgebung als ihr eigentliches Vermächtnis an: Das Sciared (ohne Endung im Tessiner Dialekt) soll mein bester Ausdruck werden, nicht ein Gedicht, nicht eine Skulptur, sondern dieses Stück Land. (1958) Die Geschichte des Hauses wird mit der Geschichte ihres Lebens bis über ihren Tod hinaus eng verbunden bleiben.

Nun lebt sie also mit Luigi in Sciaredo, und dieses ungleiche Ehepaar sucht seinen Alltag zu bestehen: Luigi arbeitet als angestellter Elektriker und in seiner Freizeit als Rebbauer, Georgette schnitzt Marionetten und später Handpuppen, die sie in Boutiquen in Lugano, in Morcote und im Bernischen Ligerz in Komission gibt und verkauft.  Vor  allem  aber  will sie  endlich  als  Holzbildhauerin weiterkommen und den eigenen hohen Ansprüchen genügen. Sie sieht ihre Kunst eng mit ihrer Person verbunden in dem Sinne, dass ihr Fortschreiten in bestimmten Techniken gleichzeitig einen persönlichen Entwicklungsschritt bedeutet: Das Bildhauern ist eine gewisse Korrektur an mir selbst, das Gezwungenwerden in Grenzen hinein. (1935) Kaum je ist sie mit ihren Werken zufrieden: Meine Arbeiten sehen noch so zaghaft aus, als getraute ich mich nicht, am Leben teilzunehmen. (1937) Immer drängt sie weiter, sie möchte besser werden, mehr können: Ich wurde offenbar innerlich zur Kunst gezwungen, weil es die einzige Lebensweise ist welche fortwährende Erneuerung gewährt. (1943)

Sie möchte mit ihrem künstlerischen Schaffen der Welt habhaft werden, das darstellen, was für sie wichtig ist, sich mitteilen, nicht im individuell – persönlichen Sinne, sondern als Mitglied einer Künstlergemeinschaft, die die Natur durch Intuition entziffert, wie sie es einmal nennt. Und doch sind in ihren zahlreichen Überlegungen zum Thema Kunst und Künstler auch Töne hörbar, die ahnen lassen, dass sie von ihrem künstlerischen Schaffen nichts geringeres als Erlösung aus eigenen Schwierigkeiten und Enttäuschungen erwartet: Wahrscheinlich wird man dadurch zur Kunst getrieben, dass man in ihr das zu realisieren versucht, was man im Leben erhoffte und nicht fand. (1938) Oder noch deutlicher: Der Künstler muss gleichzeitig mit sich selbst auch alle anderen erlösen, die sich herandrängen und es begehren.  (1944)

Diesen hohen Ansprüchen an sich und ihr Werk will sie genügen und lebt doch weitab von jeder Gemeinschaft Gleichgesinnter, ohne Zuspruch, ohne Lehrmeister, die sie besonders schmerzlich beim Holzschnitzen vermisst, wo sie immer wieder am Handwerklichen, an der Technik verzweifelt. Alles muss und will sie sich selber beibringen. Von den Marionetten und Handpuppen abgesehen, die sich gut verkaufen, fehlt ihr auch der sie anspornende Erfolg. Eine freundliche Kritik erscheint nach einer Gruppenausstellung im Winterthurer Kunstmuseum am 25.11.1935 im Tagblatt: Georgette Tentori-Klein schnitzte eine originelle Krippenfigur und etliche gute Masken aus Holz. Ihre Plastik hat an Sicherheit auffallend gewonnen. Diese Zeilen sind als kleiner vergilbter Zettel ins Tagebuch eingeklebt.

Zehn lange Jahre arbeitet sie an verschiedenen Holzplastiken mit dem Titel Mutter und Kind. Immer wieder zerstört sie verzweifelt, was ihr misslungen erscheint: Je pleure de me voire condammnée à m’éxprimer en sculpture qui est si difficile, si difficile. (1952) Mutter sein und Kinder zu haben war am Anfang der Ehe mit Luigi ein wohl der Konvention entsprechender Wunsch. Als sich dieser Wunsch nicht erfüllt und die Menopause dem ein natürliches Ende setzt, scheint sie erleichtert. Im Alter glaubt sie sicher zu sein: Ich habe nie Kinder gewollt ... es wäre der Anfang unglaublicher Verkettungen und Bindungen geworden. (1953) Daneben gibt es aber auch andere Zeugnisse aus den ersten Ehejahren: Vielleicht werde ich laut herauslachen in dem Moment, wo mir ein Kind geschenkt wird. Das wird das sicherste Zeichen sein, das ich geheilt bin. (1932)

Hier scheint einerseits noch die sexuelle Verweigerung bei Fritz Bodmer anzuklingen, andererseits wollte sie von Luigi ein Kind als sicheres Zeichen der Emanzipation von den eignen Eltern. In einer ganz verquer anmutenden Beweisführung unterstellt sie dem Vater Schadenfreude und Rachegedanken, wenn aus der von den Eltern abgelehnten Ehe mit Luigi kein Kind hervorgeht: Dann wenn mein Körper keine würdige Schale mehr sein kann für einen aufzufangenden Lebensstrom, dann wird mein Vater einwilligen (in die Heirat mit Luigi), denn dann hat er seine Rache gehabt für meine Auflehnung. (1930) Fünf Jahre später wird die Frage Kinder oder nicht auf einer eher intellektuellen Ebene abgehandelt, indem sie postuliert: Wünsche nicht, ich hätte Kinder. Ich bin mit meinen Erziehungsideen weit voraus, würde sie aus ihrer Zeit herausschleudern. (1935) Ganz im Sinne des sozialistischen Gedankens glaubt sie, dass das elternlose Kind, das für den Dienst an der zukünftigen Menschheit erzogen wird, dem bürgerlichen Besitzdenken auch auf diesem Gebiet entgegengesetzt werden muss. Letztlich sind auch hier wieder die Widersprüche am Werk, die das ganze Leben der Georgette Klein begleiten.

Lange ist sie unsicher, auf welches Gebiet der Kunst sie sich endgültig einlassen soll. Die früheren textilen Werke werden verdrängt durch die Holzplastik, daneben übt sie auch immer wieder stundenlang Geige und studiert anspruchsvolle Partituren. Auch auf literarischem Gebiet versucht sie sich. Was davon in ihren Tagebüchern erhalten ist, zeigt, dass sie wohl doch eher auf dem Gebiet der bildenden Kunst beheimatet ist. Ihre Schreibversuche muten eigentümlich blass und unanschaulich an, abgesehen von einigen sehr schönen Gedichten. Ab und zu schickt sie einen solchen Versuch an Schweizer Tageszeitungen und ist enttäuscht, wenn er zurückkommt: Ich überlege, warum ich gegen einen zurückgeschickten Artikel dermassen empfindlich bin ... Wenn ich jemandem Holzfiguren vorlege, bin ich nicht empfindlich, wenn er keine kauft. (1935)

Da Luigi als Diskussions- und Gesprächspartner nicht geeignet ist, Marcelle in Zürich lebt und mit den Eltern jeder engere Kontakt nach der Heirat unterbrochen bleibt, ist Schreiben wohl auch eine Art der Einsamkeit zu entkommen. So schrieb sie vor allem Tagebücher, wechselt mit ein paar Freunden Briefe und versucht sich an lyrischen Texten. Sie weiss im Grunde, dass sie kein wirkliches literarisches Talent hat, kann aber wie unter Zwang nicht aufhören, es immer wieder aufs Neue zu versuchen.

Schreiben ist das, was mich am meisten quält, während ich gleichzeitig dazu die grösste Lust verspüre. (1938) So gut wie ich in der bildenden Kunst keine Bewegungen darzustellen verstehe, so bringe ich es auch nicht fertig Geschichten zu schreiben. (1945) Sie quält sich mit Aufgaben, denen sie voller Selbstzweifel nicht gerecht zu werden glaubt, kann aber trotzdem nicht davon lassen. Diese Haltung zieht sich durch alle ihre künstlerischen Bemühungen, auch wenn sie durchaus Grund hätte mit dem Erfolg zufrieden zu sein. Einzig auf ihr Haus ist sie stolz und für einmal mit ihrer Leistung vollauf zufrieden.

Von ihrem Tagebuchschreiben weiss sie, dass es ein einsames Geschäft ist, das vor allem ihr als Spiegel für die Selbsterkenntnis dienen soll: Alle Aufzeichnungen haben den Sinn immer mehr und neues Leben in die Region des Bewusstseins zu heben. (1931) Sie verspricht sich von diesen Rechenschaftsberichten auch eine Steigerung ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten. Jedoch bemerkt sie sehr hellsichtig einmal: Meine Aufzeichnungen muten streckenweise an, als ob ich immer wieder den Weg für mich freimachen wolle, selbst aber nie käme. (1944) Hier denkt sie wohl vor allem an die seitenlangen Auseinandersetzungen mit Büchern, die sie gerade liest. Mindestens zweimal in der Woche geht sie für einige Stunden in die öffentliche Bibliothek in Lugano und vertieft sich in die Lektüre auf ganz verschiedenen Sachgebieten. Sie liest politische, naturwissenschaftliche und philosophische Werke, nie Belletristik, die sie verachtet. Daneben hat sie die Neue Zürcher Zeitung abonniert. Bildung, das heisst Wissen auf möglichst vielen Gebieten hat für sie immer auch einen moralischen Aspekt, indem sie es als Voraussetzung fü r ein humanes Dasein und Handeln betrachtet. (Das Naturtalent Luigi lässt sie in seiner Andersartigkeit aber ebenfalls gelten).

Deshalb will sie die Tagebücher von allem Privaten reinigen: Il faudra que ce livre ne sente pas l’oudeure d’un homme, d’un pays. Il faudra qu’il soit simplement humaine. (1938) Zum Glück hat sie sich nicht durchwegs an diese Regel gehalten. So bemerkt sie beim Wiederlesen früherer Tagebucheinträge selbstkritisch: Jedes 2. Wort ist Leben, jedes 3. Wort ist Welt. Wie gefahrlos, wie unverfänglich, wie unverpflichtend es doch ist, sich in so allgemeinen Worten auszudrücken, sagt, wenn man genau hinsieht, rein nichts. (1934) Ein Jahr später liest man: Die Zulassung des Persönlichen in der für die Öffentlichkeit bestimmten Darstellung ist Schwäche, Mangel an Selbstbeherrschung. (1935) Und noch extremer: Ein freier Mensch ist erst, wer nichts hasst und nichts liebt. Wir Nachgeborenen konnen froh darüber sein, dass Georgette Tentor-Klein diese letzte Stufe ihrer eignen Werteskala nicht erreicht hat und wir in ihrern Tagebüchern einer Frau begegnen, die an ihren eignen Widersprüchlichkeiten fast verzweifelt und trotz allem den Kampf niemals aufgibt.

Im September 1944 beginnt sie ihre künstlerische Gestaltungskraft intensiv auf das Gebiet lyrischen Schaffens zu verlegen. Wie in einem Rausch verfasst sie zahlreiche Gedichte, die – mit der Schreibmaschine abgeschrieben – in ihrem Nachlass auftauchen. Ein halbes Jahr später, im Januar 1945, bricht die Flut der Gedichte plötzlich ab. Dieser Hinwendung zur Lyrik waren schon früher tastende Versuche vorangegangen. In ihren Tagebüchern finden sich auch später immer wieder Gedichte, in denen sie die sie beschäftigenden Themen zu verdichten sucht. So werden auch im Petit Recueil vor allem künstlerisches Schaffen, Naturbetrachtungen und subjektive Befindlichkeiten thematisiert. Zudem erfährt man in den Tagebüchern, dass jene Zeitspanne gesteigerten poetischen Schaffens mit den für jede Frau wichtigen physischen Veränderungen zusammenfällt. Für Georgette Tentori-Klein markiert der Beginn der Wechseljahre nicht nur den Verlust der naturbestimmten Fruchtbarkeit und damit der Möglichkeit Mutter zu werden, sondern gleichzeitig Befreiung und die Öffnung hin zu neuen Möglichkeiten:

Nous sommes comme le fruit mûre tache de la branche

et qui porte en soi

le germe d’une nouvelle vie

heisst es in einem der Gedichte von September 44. Diese neue Freiheit öffnet ihr aber auch den Blick auf die eigene Endlichkeit. In der Präambel zum Petit Recueil schreibt sie: Ici commence la deuxie`me partie de ma vie. Elle est place´e sous le signe de la mort.

Der grösste Teil der Gedichte im Petit Recueil ist in französischer Sprache verfasst, die eben doch Georgettes Muttersprache ist, die Sprache ihrer frühen Kindheit. Deshalb erstaunt es auch nicht, dass die Anklänge an ihre Lehrmeister unüberhörbar sind. Die Bilder, die Metaphern, der Sprachduktus, alles verweist auf die französischen Symbolisten, auf Rimbaud, Verlaine und auch Prévert:

Aube

La chouette fit un amour

De deux minutes dans l’aube;

L’étoile  persévérait

Dans ma fenêtre bleue; 

Une cloche trâinait au loin,

Vacillement sur blafard,

Un signal qui s’éteint.

Die wenigen Gedichte in deutscher Sprache sind im Januar 1945 entstanden. Einige haben den Krieg zum Thema. Und auch hier sind die lyrischen Vorbilder allgegenwärtig; van Hoddis, Trakl und Heym lassen grüssen:

Krieg

Die Schreie aus meinen Hüften sind verriegelt weitzu Mond reimt auf Mord –

Die Zeit in meinem Gehirn hockt verdutzt, schnellt auf und fällt zurück,

schwarze Möwen schwärmen aus – ratlos

Bleibt die Frage, ob das lyrische Schaffen von Georgette Tentori-Klein nur ein gekonnt epigonales war, ob keine eigenen Töne zu hören sind. Doch – es gibt sie, diese eigenen Töne, und zwar in einem ganz konkreten Sinn: Immer dann, wenn sie mit Worten komponiert, wenn sie der Sprache als Musikerin begegnet, die sie ja auch ist, dann gelingen ihr eigene, originale Verse. So beginnt auch eines ihrer Gedichte mit dem Hinweis auf das Entstehen lyrischen Sprechens aus der Musik:

Le poème nâit du son il vient de loin

comme une trainée dans le cervau.

Wie ein danse funèbre toöt das Eingangsgedicht zum Petit Recueil . Die schlichten Bilder und der eingängige Rhythmus, die verzögernden Pausen und der prägnante Refrain machen dieses Gedicht zu einem überzeugenden Beispiel ihres musikalischen Sprachvermögens:

C’est tout

Prends sous la pile des nappes

la grosse toile,

dépose mon corps – c’est tout.

Prends garde, j’aurai peut-être froid

 – que personne ne me touche –

pas d’enterrement.

La flame,

C’est tout.

Et mes cendres: aux vents, à l’air, à l’eau …

pas de tombe.

Schicksalsschläge

Die täglich erneuerte Anstrengung, innere Bilder in Holzplastiken umzusetzen, intensives Geigenspiel und ausgedehnte Lektüre werden immer wieder durch äussere Schwierigkeiten und  Schicksalsschläge behindert. Schon sechs Jahre nach der Eheschliessung machen sich bei Luigi depressive Züge bemerkbar. 1940 verliert er seine Arbeit als angestellter Elektriker. Die finanziellen Schwierigkeiten werden noch grösser. Oft frieren sie in ihrem schönen Haus, und manchmal weiss Georgette nicht, wo sie das Geld für den nächsten Einkauf hernehmen soll. Sie ist inzwischen strenge Vegetarierin geworden und versucht so gut es eben geht mit ihrem Gemüsegarten Selbstversorgung zu betreiben. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges ist für Luigi ein weiterer Grund für seelische Verstimmungen.

Die Familie Tentori stammte ursprünglich aus Italien, und Luigi hat als junger Mann den 1. Weltkrieg erlebt. Bei aktuellen Kriegsberichten schwankt seine Stimmung zwischen Wutausbrüchen und tagelangem Vor-sich-hinbrüten. Georgette beginnt sich vor ihm zu fürchten, sie ist nicht sicher, wann seine verbalen Injurien in aktive Gewalt umschlagen werden. Manchmal fuchtelt er besorgniserregend mit seinem Jagdgewehr herum und einmal schiesst er in den Kamin. Zudem weiss sie, dass er aus einer erblich belasteten Familie stammt. Zwei seiner Schwestern sind in Mendrisio in der psychiatrischen Klinik interniert, und seine beiden Brüder sind schwere Alkoholiker.

Es beginnt für sie eine anstrengende Zeit der Betreuung und Pflege (Luigi lastet schwer auf mir,1945),  die sie aus einem gewissen Schuldgefühl heraus akzeptiert. Nachdem er sie wieder einmal mit seinen Obsessionen gequält hat – er wittert inzwischen überall Feinde und Gefahren – notiert sie in ihrem Tagebuch: Auch von Luigis Seite gesehen ist es nicht in Ordnung: er hat da eine Intellektuelle, mit der er nichts anfangen kann und die ihm keine Kinder geschenkt hat. (1946) Zu seinen psychischen Problemen gesellen sich körperliche Krankheiten.

Eine Meningitis macht einen Spitalaufenthalt nötig. Von da an hat er Mühe mit der Sprache, sucht nach Worten, kann nur noch undeutlich artikulieren. Dann erleidet er mehrere Herzattacken. Ein zermürbender Wechsel zwischen Spital und häuslicher Pflege beginnt. Immer wieder gibt es psychotische Schübe. Ein Arzt empfiehlt  Georgette, alle Waffen von Luigi zu entladen und sich selbst mit einem Revolver zu schützen. Sie bleibt mutig und aufopferungsvoll an seiner Seite. Als er im Januar 1955 stirbt, hat sie mit mehr als einem Jahrzehnt ihres Lebens für diese Ehe bezahlt.

Die jetzige Zeit (sie meint Luigis Krankheit und Sterben) wird mir einmal so vorkommen, als habe ich 5-10 Jahre im Kühlschrank gelegen. (1954) Wenige Wochen vor seinem Tod zieht sie nüchtern und seltsam ungerührt Bilanz: Je n’ai jamais eu pour L.T. (Luigi Tentori) ce que communement on appelle passion sentimentale. Il a repre´sente´ simplement pour moi une solution a un moment ou il ne s’en présentait pas d’autre. (Nov. 1954) Und wenn sie in späteren Jahren noch einmal auf diese ungleiche Ehe zurückblickt, so ist es im Ton ruhiger Versöhnlichkeit: La meilleure chose que j’aie faite: de ne jamais essayer de le hisser à ma hauteur. (1960)

Nach Luigis Tod ist sie zuerst einmal erleichtert. Mit neuer Freude geniesst sie Sciaredo, das sie nun alleine bewohnt: Als ich Luigi heiratete, suchte ich seine Mitarbeit, um dieses Haus zu erhalten. Dieses Haus ist jetzt der Ausgangspunkt; aus diesem Haus das Beste zu meiner Endentwicklung zu machen. (1955) Mein Haus ist mir nicht zu gross. Ich brauche Raum um mich und kann ihn auch ausfüllen. Nur so ein bescheidener Mensch wie Luigi konnte mit drinsein.  (1956) Das Haus gefällt den Menschen, weil es offen und hell ist. Es wäre ein guter Gedanke, sich vorzustellen, dass nach meinem Tode Künstler es mieten könnten. (1955) In meinen Räumen, die zu einem einzigen zusammengezogen sind, sind überall angefangene Arbeiten ausgelegt und die einzelnen Bestandteile so miteinander verbunden, wie mit Spinnwebfäden. Niemand kann eintreten, ohne davon zu zerreissen. Daher die Unbewohnbarkeit meines Hauses für andere. (1960) Es wird schwerer sein von Sciaredo Abschied zu nehmen als von den Menschen. (1958) Das Haus und seine Umgebung sind für sie ein lebendiger Organismus, in dem sie sich aufgehoben und geborgen fühlt. Mit neuem Mut wendet sie sich der Kunst zu, näht und schnitzt, immer weiter davon überzeugt, dass mit Fleiss und nimmermüdem Einsatz das Werk gelingen müsse.

Doch noch einmal holt sie ihre Vergangenheit ein: Oggi alle 9 1/4 ha telefonato Fritz Bodmer. (1.Sept. 1955) Da taucht er also wieder auf, dieser Mann, den sie immer wieder als wichtigste Person in ihrem Leben bezeichnet hat. Einmal hatten sie sich noch getroffen, als sie schon mit Luigi verheiratet war. Damals haben sie das Scheitern ihrer Beziehung äusseren Umständen zugeschrieben, als überzeugte Sozialisten Klassenunterschiede und bourgoises Besitzdenken verantwortlich gemacht. Bodmer soll gesagt haben: Wir wussten ja, das allerlei nicht stimmte, aber wir suchten den Fehler bei uns. Sie entgegnet darauf: Damit habe ich selber 10 oder mehr Jahre meines Lebens verbraucht. (1938) Ganz war die Beziehung nie abgerissen. Sie wusste, dass er als Dozent fü r Sprache und Politik in den USA lebte; ab und an wurden Briefe gewechselt.

Der Telefonanruf ein halbes Jahr nach Luigis Tod kam aus Rom, wo Bodmer inzwischen arbeitete. Sie gibt zu, dass sie die Anzeige von Luigis Tod nur deshalb in die Zeitung gesetzt hatte, damit Bodmer sie allenfalls liest. Er kommt sie in Sciaredo besuchen. Gespannt wartet sie auf sein Urteil über ihre Holzplastiken, auf die sie so unendlich viel Mühe verwendet hat. Zu ihrer grossen Enttäuschung sagt er kein Wort über ihre Arbeiten, dagegen schickt er ihr später immer wieder Bilder und Fotos von Skulpturen anderer Künstler. Sie bleibt auch als Künstlerin die demütig abwartende Frau. Von erotischen oder sexuellen Avancen seinerseits ist nicht mehr die Rede. Unsere Liebe hat sich in eine hochmenschliche Beziehung transponiert. (1955) bemerkt sie nach dem ersten Wiedersehen – ob aus Genugtuung oder Enttäuschung – wer weiss. 1957, zwei Jahre nach dem Wiedersehen, erleidet Bodmer in Rom einen Hirnschlag. Sein Sprechvermögen ist sehr beeinträchtigt, er selber schreibt in einem Brief: Eine Schraube ist lose im Gehirn. Georgette bemerkt die Parallele zu Luigis Krankheit und sieht auch sonst gewisse Ähnlichkeiten, bei allen äusseren Unterschieden, in den Beziehungen zu den beiden wichtigsten Männern ihres Lebens. Wie sie sich im Laufe der Jahre innerlich von Luigi entfernte – sie nennt ihr Zusammenleben später eine Scheinehe –, so ist sie nach Bodmers Krankheit und Tod (er stirbt im Januar 1960) eher erleichtert als traurig.

Letzte Jahre

Noch entschiedener zieht sie sich in ihr Haus zurück. Sie tilgt alle Spuren, die sie an Luigi oder Fritz Bodmer erinnern, und in einer ironischen Anspielung an das Märchen von Dornröschen sieht sie sich endlich als erlöst. Noch drei Jahre sind ihr zu Leben vergönnt. Sie wird sie ganz der Arbeit widmen. Den Alltag gestaltet sie möglichst einfach, damit genug Zeit für künstlerisches Schaffen bleibt. Sie gibt sich Regeln für den Tag: Dusche, Gymnastik, kleine Wäsche waschen, Früchte pressen für ein Glas Saft, giessen, Kaninchen füttern, zur Terrasse hinaufsteigen und sich zu einer Arbeit entscheiden. (1960)

Würde man eine Statistik über den Gebrauch bestimmter Wörter in ihren Tagebüchern machen, wäre das Wort ARBEIT sicher das häufigste. Zwinglianische Leistungsethik und der eigene Wille anderen zu zeigen, dass man etwas wert ist, treiben sie fast zwanghaft zu immer neuen Anstrengungen. In der Arbeit geschieht unsere Formwerdung, in ihr werden wir für andere sichtbar, messbar, kritisierbar.(1940) Selten ist sie mit dem, was sie tut zufrieden. Überhaupt immer den Eindruck zu wenig zu leisten, weil man die vorbereitende Arbeit, die viel umfangreicher ist als das Resultat, nicht als Leistung einschätzt, also übersieht. (1940) Diese vorbereitende Arbeit (zum Beispiel das Aussuchen eines geeigneten Holzstücks für eine Skulptur) nimmt deshalb so viel Raum ein, weil sie immer allein ist, immer auf sich gestellt, nie einen helfenden, beratenden Menschen neben sich hat. Ein anderes Hindernis bei ihrem  schöpferischem Arbeiten ist offenbar der dauernde Geldmangel: Erst heute kommt mir zu Bewusstsein, wie manches Jahr hindurch ich bei allem frug, ob es für das Budget tragbar sei. Das hat mich sehr eingeengt. Ich war soweit gekommen, dass ich auch bei meiner Arbeit zuwenig Stoff, zuwenig Holz nahm, zuwenig ass, zuwenig heizte ... in dieser Enge liegt ein Grund zum Fiasko. (1956) Für das tägliche Aufziehen der nahen Kirchturmuhr bekam sie 30 cts., für das Erteilen einer Geigenstunde 1 Franken.

Die grösste Schwierigkeit jedoch, die sie bei ihrem kreativen Tun überwinden muss, ist – wie sie es selbst hellsichtig erkennt – ihre ausgeprägte Intellektualität. Das Objekt zerrinnt mir beim Arbeiten, weil ich es zu Tode denke. (1953) Dafür sind ihre Tagebücher der beste Beweis, in denen sie über jeden Schritt ihres Schaffens Rechenschaft ablegt, jede Handlung plant und bedenkt. Über ihren Werdegang zieht sie einmal folgendermassen Bilanz: Weil ich verliebt war, machte ich ein deplorables Dr.-Examen. Mit diesem Zeugnis schämte ich mich in den Lehrberuf einzutreten. Aus den freiwerdenden Kräften kam die Hinwendung zur Kunst, aber kein Vertrauen zu ihr, weil es so spät war. So blieb ich überall auf halbem Wege stehen, während – von heute aus zurück gesehen – überall Möglichkeiten bestanden hätten. (1956) Mag sein, dass sie hier, wie so oft in ihrem Urteil über sich selbst zu streng ist, sich mit dieser harten Kritik eher anzuspornen versucht, denn eines ist sicher: aufgeben wird sie nicht. Resignation ist nicht ihre Sache. Ihre Überzeugung bleibt: Création, Künstler-Arbeit ist das einzige, was einen jung erhält bis in den Tod. (1949)

Mit weniger Anspannung und mehr Freude als bei anderen künstlerischen Arbeiten schnitzt sie ihre Holzpuppen. Auch ausgesuchte und zum Teil selbstgewebte Stoffe liegen in ihrem Atelier in Sciaredo bereit. Aus ihnen stellt sie Kleidungsstücke her, für sich, für Marcelle, für ein paar Bekannte. Der schnörkellose und eigenwillige Stil ihres Hauses und ihrer Möbel setzt sich in ihren textilen Werken fort. Für die herrschende Frauenmode hat sie nur Verachtung übrig: Je ne puis pas me couvrir d’un habit de confection. Il manque les poches. Les manches ne permettent pas le mouvement du travail. (1950) Auch das Kleid drückt Freude aus und sagt es den anderen ... abgestossen hat mich vor allem die schablonenhafte Nachahmung, das allzu Gesuchte. (1937) Der rasche Wechsel der Frauenmode ist ein Tribut an die Polygamie des Mannes. (1935) Angemessene Kleider sind für sie Teil einer gelungenen Lebensgestaltung, und die Unterwerfung unter ein Modediktat signalisiert Ängstlichkeit und Kleingeistigkeit. Wenn sie in ihren weiten, bequem geschnittenen Kleidern durch Barbengo oder durch die Gassen von Lugano schreitet, ist sie sicher eine auffallende Figur und ruft bei der konservativen Tessiner Bevölkerung manches Kopfschütteln hervor. Doch Unangepasstheit an äussere Normen ist von früh an der gemeinsame Nenner ihrer gesamten Lebensführung.

Zur Arbeit, die ihren Alltag bestimmte, gehörte neben der bildenden Kunst auch immer die Beschäftigung mit der Musik. Die Tage, die sie im Winterthurer Stadtorchester links vom Dirigenten in der ersten  Reihe an Konzerten mit ihrer Geige brillierte, sind längst vorbei. In Barbengo hat sie ab und zu einen Privatschüler gehabt, doch ist die Geduld, die es braucht, um das Gestümper von Anfängern zu ertragen, nie ihre Sache gewesen. Eine Zeitlang hat sie noch in einem Trio gespielt, aber auch das hat sich bald wieder aufgelöst, und so ist sie jetzt mit ihrer Geige in Sciaredo alleine. Manchmal werde ich mitten im Spiel sehr traurig, weil niemand da ist, der etwas davon hätte. Kommt mir vor wie eine Ernte, die nicht eingebracht worden wäre. (1938) Doch sie sieht in der Musik – ähnlich wie in der bildenden Kunst – eine Möglichkeit, sich selbst zu entwickeln, zu einem inneren Gleichgewicht zu finden: La musique est pour moi une mise au point de l’équilibre intérieur ... ce que d’autres obtiennent par la prière. (1954) Jetzt im Alter fühlt sie sich endlich frei, frei vor allem vom Zwang Erfolg zu haben, unabhängig vom Beifall anderer: Ich habe eigentlich bis jetzt in der Angst musiziert. Erst jetzt werde ich ruhig dabei. Kommt wohl daher, weil das alles angelernt war und ich nicht so weit kam, aus mir zu musizieren, aus eigenem Besitz. (1952) Dennoch weiss sie sehr gut, dass Musik und Musizieren im Grunde ein geselliges Phänomen sind, und dass sie in ihrer Tessiner Einsamkeit das Fehlen von Zuhörern und Mitspielern eben doch vermisst.

Nach Luigis Tod sichtet sie ihre Musiknoten und ist über deren Menge selbst verblüfft: Wahnsinnig, wie viel ich gekauft, zum grössten Teil gespielt, durchgearbeitet habe ... wovon wer – ausser mir – Nutzen zieht? (1955) Als Komponisten schätzt sie vor allem Schumann und Bach, die für sie zwei Extreme darstellen. An Schumann bewundert sie sein Grenzgängertum, sie glaubt, er ist bis an die Grenze dessen gegangen, was man sich an Haltlosigkeit gestatten kann, ohne aus der Rolle zu fallen. (1931) Und Bach appelliert an den Verstand und gar nicht an das Gefühl. Es ist sogar ein Ding der Unmöglichkeit, sich mit dem Gefühl an ihn heranzumachen.(1932) In dieser Einschätzung und Vorliebe spiegelt sich ein gut Teil von Georgette Kleins eigenem Wesen. An der Musik von Johann Sebastian Bach bewundert sie Intelligenz und Verstand, über die auch sie in hohem Masse verfügt. Nur dass sich bei ihr Intellekt und kreative Kraft sehr häufig bekämpfen und deshalb so manche ihrer Anstrengungen etwas Bleibendes zu schaffen am Widerspruch dieser ihrer beiden Wesenszüge scheitern.

Dass sie bei ihrem Geigenspiel keine Begleitung hat, erinnert sie an andere Einsamkeiten. Dieses solistische Spiel ist ein Gleichnis für ihr ganzes Leben. Im Grunde war sie immer allein. Nach Luigis Tod wird es nur noch augenfälliger. Die Mutter wohnt zwar in der Nähe, doch der Kontakt ist auf den Austausch von ein paar Höflichkeiten beschränkt, und Marcelle kommt nur selten nach Barbengo. Es gibt noch Willem de Boer, ihren früheren Lehrer am Konservatorium, und eine Bekannte namens Gilberte, die sie gelegentlich trifft. Der häufigste Gast auf dem Hügel ist ein Junge aus dem Dorf, der ihr im Garten hilft und dem sie so etwas wie mütterliche Zuneigung entgegen bringt. Er wird nach ihrem Tod den Garten weiterhin nutzen und pflegen.

Mit ihrer Einsamkeit hat sie sich abgefunden: Ich bin nicht erst jetzt allein (als Witwe) ich bin ein Mensch, der immer allein war und sein wird. Man wählt sich das nicht aus. Es ist so. (1955) Ihrem Tagebuch bleibt sie treu. Abend für Abend gibt sie sich Rechenschaft über den Tag, bedenkt Gelesenes, macht Pläne für Neues. Doch vor allem sind die Tagebücher auch ein Gerichtstaghalten über das eigene Ich, wie es Ibsen einmal genannt hat. Georgette Tentori-Klein geht immer hart mit sich ins Gericht. Einige Beispiele mögen das belegen: Wie gross musste mein Durst nach Leben, meine Vitalität sein, da ich so viel Leben erfand in Ermangelung des wirklichen Lebens, das ich nicht in die Hände bekam. Und dann gewöhnte ich mich ans Erfinden und mit dem rückte das wirkliche Leben immer mehr ausser Sicht. (1930) Mein Fehler ist vielleicht nur der, das ich zuviel und bewusst an mir arbeiten zu müssen glaube. (1931) Manchmal sieht es aus, als ginge ich den Dingen nur entgegen, wü rde bei ihrer Begegnung dann sagen: es lohnt sich nicht. (1934) Ich suchte für mein Handeln immer nur entlegene, ideale, sehr unsichere Zwecke, war aber immer blind für den nächsten nützlichen Zweck innerhalb meines Lebens: das erklärt, warum ich bis heute meinen Unterhalt nicht selbst verdienen konnte. (1934) Ich habe es nie verstanden aus den Menschen das herauszuholen, was mich fördern konnte, wollte alles von A bis Z selber machen. (1936) Im raschen Eingehen auf etwas, im antworten bin ich furchtbar unbeholfen. (1939) Da mein Leben ein stetes Experimentieren ist, hätte ich eine grössere Dosis Mut haben sollen, um mir Geltung zu verschaffen. Mehr wagen. Ängstlichkeit verträgt sich nicht mit experimentieren. (1940) Ich kann noch so schöne Gesichter anfangen wollen. Es nützt nichts. Ich komme nie weiter und dann zerhaue ich sie wieder und mache Fratzen daraus. Bin ich denn verdammt auf meine Zeit einzuhauen? (1940) Ein Zug geht durch mein Leben: ich habe mirs nie leicht gemacht. (1946) Wenn man so veranlagt ist, stellt man sich bei allem die Frage: könnte man es nicht besser machen? (1952) Nicht umsonst hatte ich in den letzten Jahren immer deutlicher den Eindruck, mein Mass nicht auszufüllen, meiner Pflicht nicht zu genügen, meiner Aufgabe nicht gerecht zu werden. Kurz: nicht das zu leisten, wozu ich vorbestimmt sei. Auch: Angst zu sterben, bevor ich das geleistet hätte, was man von mir zu erwarten berechtigt war. (1955) Gehöre ich in ein Vaterland? In die Enge eines Berufs? In die Zwänge einer Gegenwart? In eine soziale Klasse? Mitnichten. Ich bin nirgends einzureihen, es sei denn: als einfältiger runder Mensch. (1960)

Nach Luigis Tod beschäftigt sie sich immer wieder mit dem eigenen Sterben, der eigenen Endlichkeit. Das Alter hat für sie wenig Schrecken. Sie sieht es als natürliches Ende alles organischen Lebens und glaubt, dass der alte Mensch zu dem wird, was in nuce in ihm angelegt war. Einzig die Angst, nicht fertig zu werden, nicht zu ihrer letzten Bestimmung zu gelangen, plagt sie und hetzt sie zu immer neuen Anstrengungen. Ehe man sich’s versieht rennt man in seinen letzten Lebensabschnitt hinein, und dann hat man nur noch den Ausweg sich auszudenken, er werde so langsam verlaufen, dass man ihn tropfenweise auslöffeln könnte. (1955) So gerät sie in ihren letzten Jahren immer mehr in Zeitnot, und sie beneidet die Jungen, die noch so viel Zeit vor sich haben. Auch eine grössere Leichtigkeit (aisance) das Leben zu bestehen, schreibt sie den Jungen zu. Sie sieht im Rückblick, wie viel Lebenszeit sie und ihre Generation damit hingebracht haben Umstände zu machen, und wie sie durch die dauernde Angst in Sünde zu fallen in ihrer Entwicklung gebremst wurden.

Natürlich hat sie da vor allem die Frauen ihrer Zeit im Blick. Es gibt in ihren Tagebüchern viele böse und harte Urteile über Frauen, die zu bequem oder zu feige sind aus den Laufgittern (Iris Rothen) auszubrechen. Doch mit ebenso scharfem Blick erkennt sie die politischen und sozialen Barrieren und Ungerechtigkeiten, die den Frauen den Weg zu einem gleichberechtigten Leben verstellen. Im Jahre 1959 wird das Frauenstimmrecht in der Schweiz noch einmal wuchtig verworfen. Georgette ist bitter enttäuscht und sieht all den alten Mief wieder aufleben. Selbst hat sie sich nie aktiv an dem politischen Kampf der Frauenbewegung beteiligt, wollte sich auch hier ihre Unabhängigkeit bewahren. Vor allem hat sie nach all der Kraft, die es sie gekostet hat, ihre persönliche Freiheit zu erlangen, keine mehr für andere übrig. Gelebte Solidarität war ihre Sache nicht. Mir bot das Leben nicht soviel, dass ich fertig wäre und den Rest mit anderen teilte. Nein der Rest gehört mir allein. (1959)

Wahrscheinlich war dieser Rest  ihre glücklichste Zeit, soweit sie überhaupt Talent zum Glücklichsein hatte. Viele Stunden verbringt sie in ihrem Garten, wo sie mit Hingabe seltene Pflanzen zieht und eine grosse Fläche mit Gemüsebeeten angelegt hat. Im Winter bietet das Haus ihr den angenehmsten Aufenthalt, und das grosse Atelier ist der Ort nimmermüder kreativer Tätigkeit.

Trotzdem scheint sie zu ahnen, dass ihr kein allzulanger Lebensrest mehr bleibt. Sie macht ihr Testament und ernennt Marcelle zur Willensvollstreckerin. Sie wünscht, dass Sciaredo einmal als temporäre Wohn- und Arbeitsstätte für junge Künstler genutzt werde. Ihre Tagebücher, inzwischen über hundert an der Zahl sollen in Marcelles Besitz bleiben. Den Tod sieht sie als das letzte Hindernis an, über das man springen muss: Le prendre avec le recul nécessaire, ne pas se laisser acculer. (1960) Auch hier also will sie aktiv bleiben, etwas tun, nichts hinnehmen. Aus dieser Welt zu gehen macht ihr keine Angst, sie bedauert es nicht einmal: Me détacher du monde ne me sera guère difficile, étant donné que je n’y ai jamais bien adhéré. (1960) Immer schon hat sie sich als Gast auf Erden gefühlt. Auch darüber, was mit ihrem toten Körper geschehen soll, verfügt sie ganz im Sinne der ihr eignen Unabhängigkeit und Originalität: Ich gebe Weisung, dass meine Asche auf dem Hügel cerretum ausgestreut werde, ich hielts in keiner Urne aus. Was kann ich Besseres tun als meinem Land Dünger zu werden? (1958) Selbst eine Orazione funebre per me hat sie verfasst, ein Loblied auf das Leben und eine Aufforderung an die Nachgeborenen: Ricordatevi amici: la vita è una trappola. Ci fu fare tutte le pazzine possibili: Continuate a ballare – io adesso faccio l’ultima ballo con fuoco – la vita è come un teatro, continuate a recitare. Mi è piacuta la vita, increrente come era. Ho visto tante cose, tante. Aprite gli occhi. Le vedrete anche voi. Tendete l’orecchio: ci sono un infinità di voci: quelle della natura e quelle delle macchine. Direte con me: La vita è bella. Vale la pena di essere vissuta. Addio amici. Ohne krank gewesen zu sein stirbt sie am 23. September 1963 an einem Hirnschlag.

Gisa Lang-Hein. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie an den Universitäten Magdeburg und Zürich. Doktorarbeit über «Der junge Schiller als Psychologe». Wissenschaftliche Mitarbeit im Francke-Verlag Bern und als Lektorin im Arche-Verlag Zürich. Gymnasiallehrerin an der Kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene in Zürich. Freie Mitarbeit beim Tages-Anzeiger in Zürich. Lektorat an der ETHZ. Übersetzungen aus dem Französischen.